Fliegende Gefängnisgedichte
Frau Sabet, können Sie uns den Tag Ihrer Freilassung beschreiben?
Mahvash Sabet: Meine Familie und ich hatten am 19. September mit der Freilassung gerechnet. Am 18. September jedoch wurde ich zur Freilassung gerufen. Die Aufseher haben mich nicht telefonieren lassen. Sie haben mir bloß den Ausgang gezeigt und gesagt, bitte schön. Ich sagte, ich werde mich gleich draußen von jemandem filmen lassen und werde die ganze Welt davon in Kenntnis setzen, dass Ihr mich nach zehn Jahren ohne Geld, ohne irgendetwas einfach rausgelassen habt und ich nichts weiß und nichts machen kann. Sie haben sich trotzdem nicht beeindrucken lassen. Als ich draußen war, war ich eher wütend als froh. Vor dem Tor warteten ein paar Menschen auf die Freilassung ihrer Angehörigen. Ich fragte, ob jemand für mich eine Nummer wählen könnte. Einer von ihnen hat dann meinen Mann angerufen.
Wo haben Sie die zehnjährige Haftstrafe verbracht?
Sabet: Ich befand mich an verschiedenen Orten. Zunächst saß ich 82 Tage in Maschhad im Gefängnis. Dann wurde ich in den Abschnitt 209 des Teheraner Evin-Gefängnisses verlegt. Dort saß ich insgesamt zwei Jahre und sechs Monate in Einzelhaft und wurde immer wieder verhört. Anschließend wurde ich vor Gericht gestellt. Nach der Verurteilung wurde ich ins Gefängnis Rajaie-Shahr in Karaj verlegt. Zehn Monate habe ich dort verbracht, bevor die Frauenabteilung aufgelöst wurde. Daraufhin kamen wir ins Qarchak-Gefängnis, zwei Wochen darauf erneut ins Evin-Gefängnis, wo ich bis zum Ende meiner Haftzeit blieb.
Wie vergingen die Tage während dieser Jahre?
Sabet: Von den Tagen in der Isolationshaft im Sicherheitstrakt habe ich nicht viel mitbekommen. Es war eine harte Zeit, aber es gelang mir, mich in meine Gedankenwelt zu flüchten. Ich hatte viel Zeit zum Beten. Für mich lief eine Art Kampf zwischen dem Recht, das ich in meinem Herzen trug, und der falschen Vorstellung in den Köpfen der Zuständigen. Ich war fest davon überzeugt, glaubte daran, dass wir nichts Falsches getan hatten, und deshalb war ich mir bei den Verhören, im Gerichtssaal oder sonst wo, sicher, dass unsere Unschuld am Ende bewiesen wird. Uns wurde vieles vorgeworfen. Ich nahm die Vorwürfe aber keinesfalls ernst. Ich wusste, dass es unmöglich ist, die Anschuldigungen auch nur ansatzweise zu beweisen. Ich konnte nicht glauben, dass jemand auch ohne Beweise zu zwanzig Jahren Haft verurteilt werden kann.
Wurden Sie misshandelt oder gefoltert?
Sabet: Ich möchte gegenwärtig nicht darüber reden.
Sie befanden sich mit anderen politischen und gesellschaftlichen Aktivistinnen gemeinsam in einem Trakt. Wie war Ihr Verhältnis zu den Mithäftlingen?
Sabet: In der Abteilung für politisch-konfessionelle Gefangene war das Verhalten der Mithäftlinge auf ein friedliches Zusammenleben ausgerichtet. Wir hatten uns einen Mikrokosmos eines freien Landes geschaffen. Jeder hat seinen eigenen Glauben gelebt, ohne dafür abgestempelt, ausgeschlossen oder beleidigt zu werden. Keiner hat darauf geachtet, ob der ein oder andere politisch aktiv war oder nicht.
Wurden Sie als Bahai anders behandelt als die übrigen Häftlinge?
Sabet: Im Rajaie-Shahr-Gefängnis geschahen Dinge, die zeigten, dass die Verantwortlichen versuchten, uns psychisch zu terrorisieren oder andere Häftlinge auf uns loszulassen. Doch die machten hierbei nicht mit. Einmal wurden Fariba Kamalabadi, die auch wegen ihrer Zugehörigkeit zum Bahai-Glauben verhaftet worden war, und ich in den Trakt für Schwerverbrecherinnen versetzt. Dort war die Lage besonders schwierig. Keine durfte uns grüßen oder mit uns reden. Ich habe sogar erfahren – obwohl ich diese Information selbst nicht bestätigen kann –, dass man eine der Häftlinge, die auf ihre Hinrichtung wartete, damit beauftragt hatte, uns zu töten. Ihr soll gesagt worden sein: Dich wird man sowieso aufhängen, töte diese Leute, damit du zumindest ehrenhaft stirbst.
Doch ganz schnell hat sich die Lage zu unseren Gunsten verändert, da wir nichts verbrochen hatten und jedem Gefängnisinsassen beigestanden sind, Empathie gezeigt oder Rat gegeben haben. Auch im Evin-Gefängnis machten wir ganz ähnliche Erfahrungen: Dort ist es üblich, dass die Häftlinge unter sich eine Sprecherin wählen, die sogenannte Trakt-Anwältin. Sie kümmert sich um die internen Angelegenheiten und stellt den Kontakt zu den Aufsehern her. Als zum ersten Mal eine Bahai-Frau zur Trakt-Anwältin gewählt wurde, haben sich die Zuständigen quergestellt. Alle Insassen des Trakts sind zusammen zum Vizechef des Gefängnisses gegangen und konnten ihn davon überzeugen, dass wir die Zustände von draußen im Gefängnis nicht akzeptieren, da hier alle gleich sind. Daraufhin haben die Zuständigen es akzeptiert. Danach wurden sogar noch weitere Bahai-Frauen zu Trakt-Anwältinnen ernannt.
Der irische Schriftsteller Michael Longley beschreibt Ihre Gedichte als "epische Gedichte, die fliegen wollen". Ist das zutreffend? Und wovon handeln Ihre Gedichte?
Sabet: Meine Gedichte sind Liebensgedichte. Obwohl ich sie im Gefängnis verfasst habe, wo ich eine harte Zeit zubringen musste, geht es in ihnen um die Liebe. Die Liebe, die ich versucht habe in meinem Herzen wachsen zu lassen für die Menschen aus aller Welt, für meine Umgebung und für diejenigen, die mir gegenüber vielleicht kein Herz geschenkt haben. Ich wollte, dass meine Erinnerungen für immer bestehen bleiben – die Erinnerungen aus der Haft, aus der Perspektive einer Frau. Vielleicht wollen viele wissen, wie eine Frau im 21. Jahrhundert es schafft, zehn Jahre lang in einer winzigen Ecke der Welt zu überleben? An was sie jeden Tag gedacht hat, wie sie mit ihren Problemen im Gefängnis klar gekommen ist und worüber sie sich gefreut hat?
Ich habe über die Liebe geschrieben, über Schmerz, Leid und über meinen inneren Kampf. Ich habe dabei allerdings nie gekämpft oder daran gedacht, jemanden aus der Bahn zu werfen, sondern versucht, mich auf meine spirituelle, geistliche Kraft zu stützen.
Dass meine Gedichte fliegen wollen, finde ich dabei ganz normal. Denn wenn man jahrelang hinter Gittern sitzt, sehnt man sich nach einem Flug nach draußen, danach, die Fesseln hinter sich zu lassen. Ich hatte Sehnsucht, die Enge, den Pessimismus und die Missverständnisse hinter mir zu lassen, damit die Menschen sehen, dass ich nichts verbrochen habe und auch nur ein Mensch wie sie bin.
Wie ist Ihr Leben in den Monaten seit Ihrer Freilassung verlaufen?
Sabet: Es fällt mir schwer, mich hier draußen anzupassen, während ich emotional immer noch sehr stark mit meinen Freundinnen im Gefängnis verbunden bin. Ich habe mich an ein langsames Vergehen der Zeit gewöhnt. Die Zeit hier draußen jedoch vergeht sehr schnell. Ich habe den Eindruck, dass ich kaum etwas leisten kann. Das ist natürlich für mich schwer.
Direkt nach der Entlassung erkannte ich die Geldscheine nicht mehr wieder, geschweige denn die Straßen Teherans. Auch viele Besucher, die Kinder, die inzwischen groß geworden sind, erkannte ich nicht wieder. Ich lebe wie in einer fremden Welt.
Das Interview führte Keyvandokht Ghahari.
© Iranjournal/Deutsche Welle 2017