Prinzip Hoffnung
Für den Westen steht Pakistan oft gleichbedeutend mit "Terror". Ihr neuer Roman "Alice Bhattis Himmelfahrt"handelt jedoch weder von Terror, noch von den Taliban, sondern vom täglichen Kampf ums Überleben.
Mohammed Hanif: Richtig. Es ist ein eher intimer Roman, der mit dem Blick des Insiders vom gewöhnlichen Leben erzählt. Nach außen wirkt dieses Leben vielleicht banal oder langweilig – weder taugt es für die Schlagzeilen noch für eine Nachricht auf CNN, Fox oder Al Jazeera. Aber in den Augen derer, die es führen, ist es voller kleiner Abenteuer und Romanzen, Erniedrigungen und Momente des Schreckens. Ich finde dieses Leben deshalb genauso fesselnd und erstaunlich wie die globalen Ereignisse.
Hauptschauplatz ist ein christlich geführtes Krankenhaus – "Eintritt auf eigene Gefahr" steht an der Eingangstür... Darf man diesen Ort als ein Symbol für den Zustand des ganzen Landes verstehen?
Hanif: Die meisten von uns, die wie ich in der Stadt leben, kommen in einem Krankenhaus zur Welt und enden wohl auch dort. Es ist also ein sehr familiärer Ort – und das hat mich fasziniert. Und es ist eine Welt für sich. Natürlich können die Leser denken, dieser Ort repräsentiert eine ganze Gesellschaft, ein ganzes Land.
Sie können das Buch als eine Art Studie ansehen über die Krankheit, die unsere Gesellschaft befallen hat, und über diejenigen, die versuchen, diese Krankheit zu heilen – und das mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Aber vor allem wünsche ich mir, dass sie diesen Ort so sehen, wie ich ihn geschildert habe: als einen Ort, wo das Leben und der Tod, die Hoffnung und die Verzweiflung gleichermaßen zuhause sind.
Es ist insofern ein besonderer Ort, da es ein christlich geführtes Krankenhaus ist. Auch Alice Bhatti, ihre Protagonistin, ist Christin. Im Westen dagegen kommt die Situation der christlichen Minderheit in Pakistan nur selten zur Sprache.
Hanif: Ich mag diesen Begriff nicht. Denn wenn eine Gesellschaft eine bestimmte Gruppe als Minderheit tituliert, entbindet sie sich zugleich von ihrer moralischen und politischen Verantwortung für diese Gruppe. Minderheit meint: Es gibt etwas, das kleiner ist und deshalb weniger oder nichts zählt – und es gibt etwas, das größer und deshalb wichtiger ist. Doch dem ist eben nicht so. Frauen zum Beispiel sind in Pakistan in der Überzahl. Aber wir behandeln sie, als wären sie eine Unterart.
Das gilt auch für die Angehörigen anderer Religionen. Zugleich sind wir jedoch an einem Punkt angelangt, an dem es auch Menschen trifft, die sich selbst als Muslime bezeichnen. Die in Pakistan ansässige Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya ist beispielsweise gesetzlich verboten. Behauptet ein Anhänger der Ahmadiyya, er sei ein Muslim, muss er dafür ins Gefängnis – und viele sind bereits dafür ins Gefängnis gekommen. Das gleiche gilt für die Schiiten. Auch sie sind zur Zielscheibe von Angriffen geworden.
Aber wenn man Menschen in immer mehr Untergruppen einteilt, bildet irgendwann jeder Einzelne eine Minderheit, wie etwa die Ahmadiyyas. Doch die Wahrheit ist: Wäre meine Hauptfigur eine Muslimin, hätte sie die gleichen Erfahrungen gemacht – sofern sie derselben Schicht angehört. Denn es macht zwar manchmal einen Unterschied, welcher Religion man angehört. Doch entscheidend für das, an was du glaubst, ist nicht die Religion, sondern die Klasse, der du entstammst.
"Wie lautet dein Name, woher kommst du, an welche Religion glaubst du?" Immer wieder spielen diese Fragen im Roman eine entscheidende Rolle. Demnach scheint die Frage der Identität das Land noch immer umzutreiben.
Hanif: Ja, völlig. 65 Jahre sind seit der Gründung Pakistans vergangen. Und noch immer haben wir keine Antwort auf die wichtigste Debatte, die in Pakistan geführt wird: warum das Land gegründet wurde. Darüber sind wir uns nicht einmal in Ansätzen einig. Die einen sehen Pakistan als eine Art göttliches Geschenk, gedacht als ein ultra-religiöses islamisches Land.
Die anderen betrachten es als einen Ort, der Muslimen wie Nicht-Muslimen eine auch in ökonomischer Hinsicht sichere Heimstatt geben sollte. Diese Debatte wird umso komplizierter, wenn man über Ethnien redet: Woher kommst du? Bist du ein Punjabi, ein Sindhi oder ein Belutsche? Und nicht zu vergessen: die wichtigste Frage nach der Klasse oder dem Clan, dem man angehört.
Mir schien, als würden Sie den Lesern anhand einer kleinen Facette einen doch umfassenden Blick in die Schwierigkeiten und verschiedenen Schichten eines ganzen Landes ermöglichen.
Hanif: Jemand verhungert, ein anderer stirbt bei einer Explosion oder musste sonst wie leiden. Nur diese Nachrichten gelangen in die Schlagzeilen. Doch diese Schlagzeilen reduzieren die ganze Gesellschaft auf ein einziges bizarres Bild: auf Menschen, die nichts kennen außer Leid, sei es durch Bomben, Hunger, Fluten und andere nationale Katastrophen – oder durch Militäraktionen irgendwo in den Bergen, mit rollenden Tanklastwagen, Raketenangriffen und Drohnenattacken.
Doch die meisten Menschen führen ein Leben zwischen diesen beiden Extremen. Es ist ein Leben, zu dem das alltägliche kleine Glück ebenso gehört wie der tägliche Kampf ums Überleben. Vor allem aber gehört dazu auch die Liebe. Und die steht letztlich im Mittelpunkt meines Buches: Wie Menschen sich verlieben und wie sie versuchen, zusammen zu leben – was manchmal klappt, manchmal nicht.
Nun, für Ihre Protagonistin Alice geht es eher schlecht aus. Generell scheint die Situation von Frauen, schenkt man Ihrem Roman Glauben, recht schwierig zu sein...
Hanif: Die einfache Wahrheit lautet: Ja, das ist es. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Jeden Morgen lese ich in den Lokalseiten der Tageszeitung die aktuellen Nachrichten aus Karatschi. Und vor ein paar Jahren wurde mir klar:
Jeden Tag findet man dort mindestens eine Nachricht vor über eine Frau, die auf bizarre Weise getötet wurde – üblicherweise vom eigenen Bruder, Ehemann oder Vater, manchmal auch von der eigenen Mutter oder einer anderen Frau aus der Familie. Ich spreche wohlgemerkt nicht von irgendeinem entlegenen Stammesgebiet oder einer ländlichen Gegend. Ich spreche von einer Großstadt: Karatschi.
Das ist der Moment, in dem man anfängt, nachzudenken. Und ja, die Situation der Frauen ist schwierig, es gibt eine Menge Gewalt gegen Frauen. Aber man muss zugleich sagen – und auch in meinem Buch ist das der Fall – dass es eine Menge mutiger Frauen gibt, die sich wehren und dafür kämpfen, jeden Tag einen Zentimeter mehr Raum zu erobern. Und dieser Raum – das darf man sagen – ist größer geworden in den letzten Jahren. Aber das war ein harter Kampf – und er geht weiter, Tag für Tag.
Der Roman spielt in Karatschi. Die Stadt war lange und ist seit einiger Zeit wieder Schauplatz von Unruhen und ethnisch bedingten Kämpfen. Inwieweit spiegelt die Stadt die Probleme des Landes wider?
Hanif: Karatschi ist eine Stadt der Immigranten. Zur Zeit der Teilung lebten dort rund 400.000 Menschen. Inzwischen zählt die Stadt rund 20 Millionen Einwohner, darunter unzählige Einwanderer nicht nur aus Pakistan und Indien, sondern auch aus Sri Lanka, Burma, Bangladesh, Afghanistan. Karatschi ist quasi zum regionalen Knotenpunkt für Immigranten geworden. Und trotz aller Gewalt, trotz aller Schwierigkeiten, bietet die Stadt all den Menschen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben hierher kommen, noch immer eine Existenzgrundlage.
Deshalb verkörpert Karatschi, das die Ärmsten der Armen anzieht, einerseits die Probleme des Landes – seien das die religiösen und ethnischen Differenzen oder die Schattenwirtschaft. Doch zugleich ist die Stadt auch das einzige hoffnungsvolle Modell für das ganze Land. Denn wenn dort Menschen zusammenleben können, die gänzlich verschiedene Sprachen sprechen, gänzlich unterschiedlichen Ethnien angehören und an unterschiedliche Religionen glauben, dann könnte das auch das restliche Land.
Claudia Kramatschek
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Mohammed Hanif: Alice Bhattis Himmelfahrt, Aus dem Englischen von Ursula Gräfe, A1 Verlag, München 2012, 272 Seiten