Entfremdung als Triebfeder des Terrorismus in Ägypten

Die jüngsten Terroranschläge in Kairo werfen Fragen nach den Hintergründen und Motiven der Attentäter auf. Interview mit Nabil Abdel Fatah vom "Al-Ahram Center for Political and Strategic Studies" in Kairo.

Interview von Nelly Youssef

Herr Abdel Fatah, wie bewerten Sie die jüngsten Anschläge in Kairo?

Nabil Abdel Fatah: Die jüngsten Ereignisse bedeuten eine Rückkehr zu Formen religiös geprägter Gewalt, ausgelöst durch einen lange Jahre andauernden Zustand zunehmender Korruption auf politischer und gesellschaftlicher Ebene sowie durch eine zunehmende Entfremdung zwischen der herrschenden politischen Elite und breiten Teilen der Bevölkerung. So konnten sich Aggressionen aufstauen, die nun auf diese Weise zum Ausdruck kommen.

In den verschiedenen Institutionen, z.B. dem Parlament, gibt es keine Lobby für die gesellschaftlichen und politischen Interessen der Bevölkerung. Hinzu kommt der Mangel an politischen Visionen der herrschenden Elite als Folge der politischen Stagnation in Ägypten. Politik wird von vielen als eine Angelegenheit empfunden, die nicht Sache der gesamten ägyptischen Gesellschaft, sondern nur noch Sache der Führung durch die nationale Partei, der Regierung und ihres Präsidenten ist.

Aufgrund ihrer bürokratischen und diktatorischen Züge hat die nationale Partei jeglichen Bezug zur Realität verloren. Sie hat bei der breiten Bevölkerung keinerlei Rückhalt mehr und die Jugend hat die Hoffnung auf Veränderungen aufgegeben. Das Ergebnis ist ein gesellschaftliches Vakuum, das die Hauptursache für die Rückkehr zum Terrorismus darstellt. Die Regierung auf der anderen Seite scheint unfähig, den unterschiedlichen religiösen und politischen Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft angemessen zu begegnen.

So wird zwar seit 20 Jahren beteuert, den Terrorismus bekämpfen zu wollen, jedoch setzen sich Politik und Medien mit diesem Problem nicht wirklich auseinander. Ein Hinterfragen der Ursachen, der politischen Tendenzen und Motive, die die Jugend dazu bringt, sich gewalttätigen und radikalen Organisationen anzuschließen, findet nicht statt.

Worin liegen Ihrer Meinung nach die Gründe für die Anschläge?

Abdel Fatah: Die jungen Menschen, die diese Anschläge verübt haben, sahen sich innerhalb einer maroden politischen Landschaft, in der sie keine Möglichkeit hatten, sich einzubringen, ihre Meinungen zu vertreten oder sich mit den verschiedenen politischen Kräften auseinander zu setzen.

Zusätzlich wird die ägyptische Zivilgesellschaft durch die Gesetzgebung, die Verwaltung und Sicherheitsinteressen eingeengt. Das Thema Sicherheit, das Vertrauen der herrschenden Elite und der Entscheidungsträger in die Sicherheitsapparate, steht in Ägypten an oberster Stelle. Vor diesem Hintergrund findet auch die Auseinandersetzung mit sensiblen Themen wie dem der Kopten, der Al-Azhar, der islamischen Organisationen und der Presse statt.

Zu den Motiven für die jüngsten Terroranschläge gibt es indes unterschiedliche Meinungen. Von offizieller Seite wurden konstruierte Erklärungsversuche abgegeben, die von den Organisatoren der Anschläge allerdings auch nicht dementiert wurden. So verfolgt die ägyptische Regierung die Strategie, die Terroranschläge als Ausdruck der Empörung über die Ereignisse in Palästina, im Irak und die US-amerikanische Politik im Nahen Osten zu erklären. Das kann auch ein Motiv sein, wohl aber nicht das einzige.

Die Erklärungen der Regierung tragen jedoch nichts zu einer wissenschaftlichen Untersuchung und zu einem echten Verständnis der Ereignisse bei. Dies wird erst dann möglich, wenn die Politik bereit ist, für das Problem der religiös motivierten Gewalt Lösungen auf sozialer, kultureller und demokratischer Basis zu finden.

All dies führt letztendlich zu einer Verschärfung des Phänomens des Terrors, das durch die jüngsten Ereignisse erneut ins Blickfeld gerückt ist. Meiner Ansicht nach wird der Terror weiter gehen, da seine Ursachen weiterhin bestehen.

Können wir also tatsächlich von einer neuen Generation islamischer Terror-Gruppen sprechen? Oder wurden die letzten Anschläge von Einzeltätern verübt, hinter denen keine Organisation steht?

Abdel Fatah: Mit Sicherheit handelt es sich hier um eine neue Generation islamischer Hardliner. Anfangs wurde von Regierungsseite behauptet, es handle sich um von einzelnen Personen oder Familien verübte Taten. Dieser Schnellschuss war jedoch eine irrige und gefährliche Annahme.

Selbst wenn diese Anschläge ohne besonderen Hintergrund und von Einzeltätern verübt worden sein sollten, dem ich entschieden widersprechen möchte, so sind wir dennoch mit einem gefährlichen Problem konfrontiert. Der Versuch, dieses Problem mithilfe solcher engen Erklärungsmuster in Abrede zu stellen, ist zum Scheitern verurteilt. Tatsächlich gibt es gesellschaftliche Strömungen, die Anschläge auf Ägypter, unschuldige Ausländer und öffentliche Institutionen zum Ziel haben.

In der Vergangenheit wurde von Experten wiederholt auf die Problematik hingewiesen, dass bestimmte Wohngegenden unkontrolliert expandiert sind, aus denen nun die Personen stammen, die die jüngsten Anschläge verübt haben. Da die Lebensumstände in diesen Gegenden menschenunwürdig sind, wurden von Experten Alternativen entwickelt, um die dort herrschenden Lebensumstände zu verbessern. Bislang stieß man mit diesen Vorschlägen aber auf taube Ohren.

Wut, Empörung, Hoffnungslosigkeit und Frustration haben nun eine neue Generation entstehen lassen, die sich mehr und mehr an der Al-Qaeda orientiert, die sich einfacher technischer Mittel bedient und sich auf die Vorstellungen von Politik und Terrorismus derer stützt, die in den Vereinigten Staaten die Anschläge des 11. September verübt haben.

Ich denke, dass die Personen, die für die jüngsten Anschläge verantwortlich sind, den Organisationen des islamischen Dschihad zuzurechnen sind. Daher erübrigt sich meiner Ansicht nach die Diskussion, ob die Anschläge durch Einzeltäter verübt wurden.

Wie erklären Sie die erstmalige Beteiligung von Frauen an solchen Terroranschlägen?

Abdel Fatah: Die Mobilmachung von Frauen markiert in meinen Augen eine neuartige Entwicklung. Bislang gingen ihre Tätigkeiten nicht über das Übertragen von Nachrichten zwischen einzelnen Kadern der Organisation, das Beschaffen von Informationen über Personen und Orte als mögliche Ziele von Terroranschlägen oder das Beherbergen von Tätern, die sich auf der Flucht vor Sicherheitskräften befanden, hinaus.

Diese neue und gefährliche Entwicklung zeigt auf, welche Erfolge der politische Islam im Bezug auf die Beeinflussung des kulturellen und religiösen Lebens ägyptischer Frauen bereits erzielt hat. Er beherrscht das Leben der Frauen, indem sie gezwungen werden, bestimmte Kleidungsstücke wie den Schleier zu tragen oder sich auf bestimmte Weise zu verhalten. Ihr Umfeld ist von islamisierten Verhaltensmustern bestimmt, in dem der Glaube im Mittelpunkt steht.

Tatsächlich ist es Teil der Strategie der Salafija-Bewegung und der Muslimbrüder, durch die erfolgreiche Kontrolle des Privatbereichs von Frauen und Jugendlichen und die Islamisierung ihrer Lebensumstände auch die Rückkehr zum Islam innerhalb der gesamten ägyptischen Gesellschaft zu ermöglichen.

Natürlich spielen aber auch persönliche Gründe eine Rolle. Für eine Frau, die an dem jüngsten Terroranschlag beteiligt war, gab eine gescheiterte Ehe den Ausschlag, jedoch auch ihre Erziehung, die durch eine Überbewertung des religiösen Verständnisses gekennzeichnet war. Diese Überbewertung ist eine Folge der in Ägypten herrschenden Unübersichtlichkeit im Bereich der Fatwas und der religiösen Propaganda.

Die chaotische und gefährliche Szenerie in diesem Bereich erfordert es, dass sich die ägyptische Gesellschaft vom Zustand der Stagnation und des Rückstandes löst und sich auf verschiedenen Ebenen durch fortschrittliche Visionen in Politik, Wissenschaft und Bildung weiterentwickelt.

Wie wirken sich diese Anschläge auf die Reformbewegung in Ägypten aus?

Abdel Fatah: Ich denke, dass jede Seite diese Terroranschläge dazu benutzt, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Die Stimmen, die gegen eine Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse und Situation eintreten, plädieren für ein Notstandsgesetz, um den Terrorismus zu bekämpfen. Allerdings kann auch ein solches Gesetz keine Terroranschläge verhindern. Ganz im Gegenteil weist es auf fehlende politische Kontinuität hin und trifft den Rechtsstaat in seinem Innersten.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch positive Anzeichen für eine Veränderung der politischen Stimmung in Ägypten. Dabei wird deutlich, dass die seit 1952 bestehende und seitdem beinahe unveränderte gesellschaftliche Struktur von Verfassung, Politik und Medien kritisch betrachtet wird. Vielleicht könnten die jüngsten Ereignisse ein Anstoß für Reformen sein.

Wie sollte diesen Terroranschlägen sinnvoll begegnet werden?

Abdel Fatah: In Ägypten befindet sich der Umgang mit dem Terrorismus auf dem Stand von vor 24 Jahren. Repression und Sicherheitsapparat als einzige Waffen reichen aber nicht aus. Eine Lösung ist meiner Ansicht nach, dem Terrorismus stärker mit Methoden der Wissenschaft zu begegnen. Fachleuten sollten etwa Informationen zugänglich gemacht werden, die sich aus den Durchführungsplänen ergeben, die in den Wohnungen der Organisatoren der letzten Anschläge gefunden wurden.

Bei der Frage nach den Motiven der Gruppierungen, die derartige Anschläge verüben, muss zudem der Blickwinkel erweitert werden. Die Fesseln, die der Zivilgesellschaft auferlegt sind, sind zu lockern, um die fehlgeleiteten Energien der Jugend auffangen und wieder in friedliche Bahnen lenken zu können.

Ebenso ist es dringend notwendig, die Fatwas und die religiösen Reden zu hinterfragen, die zwar in den vergangenen fünfzig Jahren gültig waren, die aber nicht mehr in die heutige Zeit passen, sondern diese vielmehr ablehnen.

Interview: Nelly Youssef

© Qantara.de 2005

Übersetzung aus dem Arabischen von Helene Adjouri

Qantara.de

Al-Wasat-Partei in Ägypten
Demokratisch und pluralistisch?
Wenn Anfang Oktober das ägyptische Komitee für die Zulassung neuer Parteien beraten haben wird, könnte es sein, dass das Land am Nil eine neue politische Kraft besitzt. Jürgen Stryjak über die Partei Al-Wasat, die wegen ihres Reformansatzes international immer öfter mit der türkischen, gemäßigt-islamischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung verglichen wird.

Verfassungsänderung in Ägypten
Reformfieber
In Ägypten sollen bei der Präsidentenwahl im September erstmals mehrere Kandidaten antreten dürfen. Das Parlament stimmte nun dem Antrag von Staatspräsident Mubarak zu. Ghassan Moukahal analysiert die Hintergründe.

Interview Ahmad Saif al-Islam Hamad
Gegen Wiederernennung und Erbfolge in Ägypten
Im September 2005 sollen die Ägypter der erneuten Ernennung Husni Mubaraks als Staatspräsident zustimmen. Dagegen macht sich offene Opposition breit, berichtet Ahmad Saif al-Islam Hamad, Exekutiv-Direktor des Hisham-Mubarak-Zentrums für Recht.

www
Al-Ahram Center for Political and« Strategic Studies (engl.)