"Es fehlt ein gewisser kritischer Geist"

Die sudanesische bildende Künstlerin Nagat M. El-Mahi berichtet im Gespräch mit Dorothee Reichold über ihr künstlerisches Selbstverständnis und die Situation sudanesischer Künstler im In- und Ausland.

Die eindrucksvollen Malereien der sudanesischen Künstlerin Nagat M. El-Mahi reflektieren ihre Erfahrungen, die sie in den verschiedenen Regionen des Sudan gesammelt hat. Im Gespräch mit Dorothee Reichold berichtet sie über ihr künstlerisches Selbstverständnis und die Situation sudanesischer Künstler im In- und Ausland.

Nagat M. El-Mahi; Foto: privat
Nagat M. El-Mahi wünscht sich, dass es den sudanesischen Künstlern in der Diaspora gelingt, eine Brücke zwischen dem Sudan und dem Rest der Welt zu schlagen

​​Vor etwa drei Jahren waren Sie mit Ihren Studenten in der Alanus Kunsthochschule bei Bonn zu Gast und hatten dort Gelegenheit, die künstlerische Lehre in Deutschland kennen zu lernen. Welche Unterschiede bestehen zwischen dem Kunststudium in Deutschland und dem im Sudan?

Nagat M. El-Mahi: Natürlich hat das Kunststudium in beiden Ländern einen jeweils anderen Stellenwert in der Gesellschaft; auch die Unterrichtsmethoden und das Angebot an Materialien sind verschieden. Die Lebensumstände der Studenten und Dozenten sind in beiden Ländern sehr unterschiedlich, und die Unterrichtsatmosphäre ist im Sudan anders als in Deutschland.

Im Sudan gilt das Kunststudium immer noch als Orchideenfach; nur wenige Eltern bestärken ihre Kinder in der Entscheidung, Kunst zu studieren, wenn diese z. B. auch die nötige Begabung für ein Medizinstudium hätten. Das hängt mit dem niedrigen sozialen Status zusammen, den ein Künstler etwa im Vergleich zu einem Arzt in der sudanesischen Gesellschaft hat, und damit, dass Künstler kein gesichertes Einkommen haben. Nagat M. El-Mahi wurde 1972 in Al-Fashir (Darfur) geboren. 1998 schloss sie ihr Studium der Malerei an der Hochschule für schöne und angewandte Künste in Khartoum ab, wo sie anschließend als Assistentin tätig war, bis sie 2005 nach London zog. El-Mahi zeigte ihre Werke in etlichen Ausstellungen in afrikanischen Staaten sowie in Deutschland. Letztes Jahr stellte sie in Paris und im Design Museum in London aus. Eine weitere Ursache dafür, dass dem Kunststudium im Sudan die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt, liegt darin, dass Kunst an den Schulen nicht als Pflichtfach unterrichtet wird. Den meisten Schulen mangelt es an qualifizierten Kunstlehrern und finanziellen Mitteln, so dass auf den "Luxus" Kunstunterricht verzichtet wird.

Die Hochschule für schöne und angewandte Künste in Khartoum ging aus einer Schule für Design hervor, die 1946 gegründet worden war. Der universitäre Kunstunterricht im Sudan steckt angesichts politischer und gesellschaftlicher Umwälzungen in der Krise. An den Lehrplänen gibt es meiner Meinung nach nichts auszusetzen. Doch es fehlt ein gewisser kritischer Geist, was dazu führt, dass der Unterricht oft nicht mehr ist als die Anleitung der Studenten zum Nachahmen von Vorbildern.

In einer undemokratischen und patriarchalischen Gesellschaft herrscht oft ein Klima, das den Studenten die Möglichkeit zur freien Entfaltung verwehrt. Diese Möglichkeit bieten dagegen in hohem Maße die Alanus Kunsthochschule und die meisten anderen Kunsthochschulen in Ländern,

&copy www.europia.org/Nagat/
Nagat M. El-Mahi's Ausstellungsexponat im "Centre Culturel Français"

​​ in denen im Bildungssystem viel Wert auf individuelle Entfaltung gelegt wird.

Können Sie uns Ihre künstlerische Arbeit beschreiben? Betrachten Sie sich als sudanesische Künstlerin oder empfinden Sie Ihre Kunst als international?

El-Mahi: Heutzutage neigt man dazu, unbedacht Grenzen zwischen dem Westen, dem Osten, dem Norden und dem Süden zu ziehen. Mein Malereistudium und meine Lehrtätigkeit an der Kunsthochschule haben mich in den Stand versetzt, das zu verarbeiten, was sich um mich herum und in einigen Teilen der Welt abspielt. Ich betrachte mich zuallererst als bildende Künstlerin.

In meiner Arbeit schöpfe ich aus den mannigfaltigen Kulturen des Sudan. Denn dadurch, dass ich in verschiedenen Regionen dieses 2,5 Mio km² großen Landes gelebt habe, wurde ich von den unterschiedlichsten Umgebungen geprägt. Ich wurde zwar in Darfur geboren, meine Familie stammt aber aus dem höchsten Norden. Meine Studienzeit verbrachte ich in Khartoum, und ich unternahm etliche Reisen innerhalb des Sudan und ins Ausland. Heute lebe ich in Europa. Ich fühle mich keinem bestimmten Ort zugehörig.

Das Erstaunliche an der Rezeption meiner Werke in Europa ist, dass sie die gleichen Reaktionen auslösen wie im Sudan: Nämlich dass meineFarbgebung und Motive unkonventionell seien. Dies hat mich erstaunt und zugleich gefreut. Es ist vielleicht ein Fehler, wenn manche

&copy www.europia.org/Nagat/
Nagat M. El-Mahi's Ausstellungsexponat im "Centre Culturel Français"

​​Kritiker meinen, ein künstlerisches Werk immer einordnen zu müssen. Ich mache mir darüber nicht viele Gedanken.

Eines der Themen, die ich in meinen neuesten Arbeiten behandele, ist aus meiner Beschäftigung mit dem Motiv der Gasse hervorgegangen. Ich gehe gerne spazieren; bei meinen Streifzügen durch den Sudan bin ich mir der Beziehungen innerhalb verschiedener sozialer Gruppen bewusst geworden, die die Häuser und Straßen widerspiegeln: Geschlecht, soziale Schicht, Alter und Sprache.

Künstler sehen sich in islamischen Gesellschaften bisweilen mit dem Problem konfrontiert, dass ihre Arbeit auf Grund des islamischen Bilderverbots von einigen Leuten als unislamisch betrachtet wird. Hat sich die sudanesische Kunstszene verändert, als Al-Baschir und mit ihm der politische Islam an die Macht kam? Sind sudanesische Künstler seitdem in ihrer Arbeit eingeschränkt?

El-Mahi: Der Sudan hat seit seiner Unabhängigkeit verschiedene politische Veränderungen erlebt; jede dieser Veränderungen hatte Auswirkungen auf die künstlerische Arbeit im Sudan. Der Künstler lebt ja nicht isoliert von der Gesellschaft; er interessiert sich genauso für die Geschicke seines Landes wie jeder andere Bürger auch.

Die bildenden Künstler haben jeweils unterschiedlich auf den politischen und gesellschaftlichen Druck reagiert. Unter einigen Machthabern verloren manche Künstler ihre Einnahmequelle, andere wanderten aus und wieder andere stellten ihre künstlerische Arbeit in den Dienst der einen oder anderen politischen Strömung.

Trotz der verschiedenen politischen Veränderungen blieb die Hochschule für schöne und angewandte Künste ihrer Linie treu, und zwar mit all ihren Abteilungen, d. h. Bildhauerei, Malerei, Keramik, Industrie- und Kommunikationsdesign, Innenarchitektur, Textildruck, Typographie, Buchbinderei und Kalligraphie. Dies ist den Professoren, Angestellten, Studenten und Absolventen zu verdanken.

Ab und zu hatten wir zwar mit Problemen zu kämpfen, konnten sie aber jedes Mal überwinden. Ich bin optimistisch, dass der Kunsthochschule, die bereits seit über 50 Jahren besteht, politische Veränderungen auch in Zukunft nichts werden anhaben können; mit politischen Veränderungen müssen Künstler im Sudan schon seit Jahrtausenden fertig werden.

Gibt es viele sudanesische Künstler, die im Ausland leben?

El-Mahi: Es gibt durchaus sudanesische Künstler, die es geschafft haben, sich im Ausland zu behaupten, in London z. B. der Keramiker Mohamed Ahmed Abdallah, der Maler Ibrahim Al-Salahi und Osman Wagiala.

In den letzten Jahrzehnten verließen aus den unterschiedlichsten Gründen viele sudanesische Künstler den Sudan. Einige von ihnen emigrierten in die Golfstaaten, um ihre finanzielle Situation aufzubessern, andere hat es ins Exil in westliche Länder verschlagen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass in jedem Land der Welt ein sudanesischer Künstler lebt.

Ich wünsche mir, dass es uns sudanesischen Künstlern in der Diaspora gelingt, eine Brücke zwischen dem Sudan und dem Rest der Welt zu schlagen, und dass wir unsere Kollegen im Sudan unterstützen können. Ich persönlich träume davon, meine Ausstellungsaktivitäten auszuweiten und davon, mein Leben in Europa dazu zu nutzen, etwas dazu zu lernen. Außerdem hoffe ich, dazu beitragen zu können, dass die künstlerische Arbeit meiner Kolleginnen bekannter wird, die sich in der "Vereinigung sudanesischer Künstlerinnen" zusammengeschlossen haben.

Interview: Dorothee Reichold

© Qantara.de 2006

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