Zwischen Verwundung und Aufbruch

Drei Jahre nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut sitzt der Schock in Libanons Kulturszene immer noch tief. Hoffnung stiftet ein geplanter Museumsneubau. Von Stefan Dege

Von Stefan Dege

Mehr als 200 Menschen wurden getötet und große Teile der Stadt verwüstet, als am 4. August 2020 an die 3000 Tonnen Ammoniumnitrat in die Luft flogen. Die Druckwelle war so stark, dass - nach UNESCO-Angaben - rund 640 historische Gebäude in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die Explosion im Hafen von Beirut war ein Fiasko für den von Bürgerkrieg, politischen Krisen und wirtschaftlichem Niedergang gezeichneten Libanon.

Die Explosion traf auch viele Kulturorte. Schwer beschädigt wurde etwa das Nicolas-Ibrahim-Sursock-Museum, Libanons älteste unabhängige Kultureinrichtung. Fast drei Jahre dauerten die Restaurierungsarbeiten am Museum, die mit mehr als drei Millionen US-Dollar Unterstützung aus Frankreich, Italien und der UNESCO durchgeführt werden konnten.



Im Mai 2023 konnte das Haus wieder öffnen. "Ein Wunder und ein Zeichen der Hoffnung", befand Klaus-Dieter Lehmann, vormals Präsident des deutschen Goethe-Instituts und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zumal das Sursock-Museum über Jahrzehnte ein "Anker für Libanons Kulturszene und ein Schaufenster in die Kunstproduktion des Landes" gewesen sei. Direktorin Karina El Helou sprach gar von einem "Symbol für den Fortbestand des kulturellen Lebens in Beirut".

Sie könnte Recht behalten. Denn Beirut, das einst den Beinamen "Paris des Ostens" trug, ist nicht nur, wie Klaus-Dieter Lehmann feststellt, "eine geschundene Stadt". Die Explosion traf auch das Beiruter Kulturleben mitten ins Herz.



In den Stadtvierteln Gemmayze und Mar Mikhael wurden Cafés, alternative Räumlichkeiten, in denen Poetry-Slams, Diskussionsabende oder kleine Livekonzerte stattfanden, ebenso zerstört wie Designstudios für Schmuck, Möbel oder Kleidung.

Die Sfeir-Semler Galerie in Beirut wurde durch die Explosion zerstört (Foto: Sfeir-Semler Gallery Beirut/Hamburg)
"Die Explosion hat sehr viel kaputt gemacht”, erinnert sich die Deutsch-Libanesin Andrée Sfeir-Semler. Ihre Ausstellungsräume am Hafen wurden bei der gewaltigen Explosion im August 2020 völlig zerstört. Bis heute ist unklar, wer die Verantwortung für das Unglück trägt. Sfeir-Semler ist Spezialistin für arabische Gegenwartskunst und betreibt - neben ihrer Galerie in Hamburg - auch eine Dependance in Beirut. "Libanons Gegenwartskunst”, sagt die Galeristin, "ist heute die einzige Instanz im Land, die sich nicht von einer der 18 Religionsgemeinschaften abhängig macht."

Urheber der Explosion weiter unklar

Viele der Betroffenen, darunter zahlreiche Kulturschaffende, müssen nach wie vor fürchten, dass ihre Häuser nun von Großinvestoren aufgekauft werden. Es wäre das Aus für die alternative Kulturszene Beiruts. Aber es gibt Protest: "Wir bleiben!”, leuchtet es in signalroten Buchstaben immer wieder trotzig von großen Plakaten an den Häuserwänden.

"Die Explosion hat sehr viel kaputt gemacht”, erinnert sich die Deutsch-Libanesin Andrée Sfeir-Semler, "viele Musiker verloren ihre Instrumente, viele Maler ihre Kunstwerke. Sie ist Spezialistin für arabische Gegenwartskunst und betreibt - neben ihrer Galerie in Hamburg - auch eine Dependance in Beirut. Ihre Ausstellungsräume am Hafen wurden bei der gewaltigen Explosion im August 2020 völlig zerstört. Bis heute ist unklar, wer die Verantwortung für das Unglück trägt.

"Libanons Kunstszene existiert noch, lebt aber immer weniger im Libanon", konstatiert Lehmann. Was dem Land zu schaffen macht, mehr noch als vor der Explosion, ist der ungebremste Exodus von Kulturschaffenden. Wirtschaftskrise und Korruption haben viele Kreative vertrieben.

"Die Kulturszene Beiruts ist heute über die ganze Welt verteilt", sagt auch Anne Eberhard, Leiterin des Goethe-Instituts Beirut. Besonders in Frankreich und Deutschland seien große Diaspora-Szenen entstanden. "Berlin wird immer mehr zu einer Art arabischer Kulturhauptstadt", sagt sie scherzhaft.

Zentrale Rolle von Kunst und Kultur 

In Beirut hingegen hätten viele Kulturinstitutionen aufgeben oder sich verkleinern müssen. Romantisches Künstlerleben? "Das muss man sich hier erst mal leisten können!”, so Eberhard zur Deutschen Welle.



Den Libanon beschreibt sie als ein Land der krassen Gegensätze zwischen Arm und Reich, vieler Ethnien und 18 Religionsgemeinschaften - in einem "zersplitterten Machtkosmos". Rechnerisch ist jeder Fünfte im Libanon ein syrischer Flüchtling. "Kunst und Kultur”, so Eberhard, "können hier sehr politisch sein!”

Anne Eberhard, Leiterin des Goethe-Instituts in Beirut (Foto: Elie Bekhazi/Goethe-Institut)
Anne Eberhard, Leiterin des Goethe-Instituts Beirut: Was dem Land zu schaffen macht, mehr noch als vor der Explosion, ist der ungebremste Exodus von Kulturschaffenden. Wirtschaftskrise und Korruption haben viele Kreative vertrieben. "Die Kulturszene Beiruts ist heute über die ganze Welt verteilt", sagt Eberhard. Das Goethe-Institut helfe finanziell und mit Kontakten, leiste "Strukturhilfe", wo es an staatlicher Kulturförderung fehlt: Das Goethe-Programm "ArtEvolution" etwa unterstützt junge Künstlerinnen und Künstlern bei ihren eigenen Produktionen.



Tatsächlich ist die Machtbalance im Libanon fragil, seit die konfessionellen Gruppen im Abkommen von Taif 1989 die Macht unter sich aufteilten und damit dem Bürgerkrieg ein Ende setzten. Der 15 Jahre währende Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 hatte das Land ins Chaos gestürzt.



"Kunst und Literatur wurden zunehmend politisiert und ideologisiert", erklärt Kulturvermittler Klaus-Dieter Lehmann. Die heftigen Kämpfe mit rasch wechselnden Fronten und Bündnissen hatten die produktive Epoche Beiruts nach der Unabhängigkeit von Frankreich 1943 schlagartig beendet.

Libanon war immer ein Land der Kultur

Mehr denn je spielen Kunst und Kultur heute wieder eine zentrale Rolle für den Libanon. Das belegt zum einen die Szene der jungen "Emerging Artists", die laut Anne Eberhard den Ton angeben und sich engagieren. So führten Kunstschaffende Theaterstücke auf der Straße oder in Flüchtlingslagern auf.



Andere veranstalteten Festivals auch außerhalb von Beirut und trügen Kultur so in die von der Politik sträflich vernachlässigte Provinz. Das Goethe-Institut helfe finanziell und mit Kontakten, leiste "Strukturhilfe", wo es an staatlicher Kulturförderung fehlt: Das Goethe-Programm "ArtEvolution" etwa unterstützt junge Künstlerinnen und Künstlern bei ihren eigenen Produktionen.



Viele libanesische Künstler arbeiten gegen die verbreitete Blockmentalität der Religionsgemeinschaften an, ihre Werke kreisen um Erfahrungen von Flucht, Lager oder Exil, bittere Armut, Bürgerkrieg, politische Heimatlosigkeit.



"Libanons Gegenwartskunst”, sagt Galeristin Sfeir-Semler, "ist heute die einzige Instanz im Land, die sich nicht von einer der 18 Religionsgemeinschaften abhängig macht." In Beirut herrsche noch eine gewisse Toleranz unter den Menschen, mehr als anderswo im arabischen Raum.



"Warum gibt es so eine Kunstszene im Libanon und nicht in Syrien, in Ägypten, in den Golfstaaten?", fragt die Kunstexpertin und liefert gleich selbst die Antwort: "Weil es keine arabische Stadt gibt, in der man so frei ist wie in Beirut!"

Entwurf von Amale Andraos luftigem Design für Beiruts neues Museum of Art (Foto: Work AC)
Umstrittenes Projekt: Am neuesten geplanten Beiruter Kulturprojekt scheiden sich die Geister. Unweit des Nationalmuseums, das die archäologischen Schätze des Landes bewahrt, in Nachbarschaft eines privaten Mineralienmuseums und des neuen Kulturzentrums Beit Beirut, soll das Beirut Museum of Art, kurz: BeMA, entstehen (hier ein Entwurf). Es könnte die Sammlung des libanesischen Kulturministeriums aufnehmen und zum ersten Mal öffentlich ausstellen.

Pläne für eine neues Kunstmuseum

Mitten in dieser komplizierten Situation gedeiht das neueste Beiruter Kulturprojekt, das allerdings nicht ganz unumstritten ist: Unweit des Nationalmuseums, das die archäologischen Schätze des Landes bewahrt, in Nachbarschaft eines privaten Mineralienmuseums und des neuen Kulturzentrums Beit Beirut, soll das Beirut Museum of Art, kurz: BeMA, entstehen. Es könnte die Sammlung des libanesischen Kulturministeriums aufnehmen und zum ersten Mal öffentlich ausstellen.

Noch lagern die rund 2300 Werke moderner und zeitgenössischer Kunst von überwiegend libanesischen Künstlern in Depots und sind nach Museumsangaben in einem miserablen Zustand: Leinwände sind voller Löcher, manche Werke von Staub und Schimmel überzogen, Skulpturen zerbrochen - der Bürgerkrieg hat auch hier seine Spuren hinterlassen. Die Restaurierungsarbeiten haben - mit Unterstützung aus Deutschland - bereits 2016 begonnen.

Doch vielleicht gerade deshalb konnte sich der Museumsentwurf der in den USA lebenden libanesischen Architektin Amale Andraos durchsetzen. Er wirkt wie eine Einladung: Die lichte Fassade besteht aus offenen Balkonen, von außen fällt der Blick auf Treppen und Innenräume. Private Spender brachten bereits einen Teil der 30 Millionen US-Dollar auf, die das BeMA kosten soll. Erst kürzlich wurde der Grundstein gelegt.

Und doch beschlichen die Initiatoren offenbar Zweifel, ob das Projekt noch in die Zeit passt: "Die vergangenen Jahre waren eine Achterbahnfahrt", zitierte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" Michele Haddad, bis Mai noch Direktorin des Beirut Museum of Art. Die sich verschlechternde Lage habe dazu geführt, das Projekt zu überdenken.

Allen Bedenken zum Trotz soll das Museum bis 2026 fertig sein. Es möchte, wie auf der Internetseite zu lesen steht, das kulturelle Gedächtnis des Libanon bewahren und die Menschen mit Hilfe von Kunst verbinden. 



Lob kommt nicht nur von der Galeristin Andrée Sfeir-Semler: "Wie man die Architektur des neuen Museums findet, was dort hineinkommt, woher die Kunstwerke stammen und wer das am Ende bezahlen wird, das alles wird man sehen", sagt sie, "aber es ist in jedem Fall besser als gar nichts!"

Stefan Dege

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