"Flucht wirkt lebensrettend"

Im Gespräch mit Ruth Renée Reif äußert sich der renommierte Schriftsteller Rafik Schami über die europäische Flüchtlingskrise und kritisiert in scharfen Worten den politischen Umgang des Westens mit dem Assad-Regime in Syrien.

Von Ruth Renée Reif

Vorbemerkung: Von diesem Gespräch kursieren mehrere falsche Kopien. Diese ist die einzige von Rafik Schami autorisierte Fassung.

Rafik Schami, Syrien ist zerstört. Die Menschen nehmen alles auf sich, nur um aus dem Land zu kommen. Haben Sie eine solch katastrophale Entwicklung für möglich gehalten?

Rafik Schami: Ich war skeptisch. Deswegen machte ich mich auch unbeliebt bei Freunden in der syrischen Opposition. Als sie anfangs jubelten, wollte ich einfach nicht an einen baldigen Sieg glauben. Dieses Ausmaß der Katastrophe aber habe ich nicht geahnt. Dass ein Herrscher sein eigenes Volk mit Giftgas bombardiert, hat es in der Geschichte noch nicht gegeben.

Zu Beginn des "Arabischen Frühlings" dachte man tatsächlich, die Umbrüche würden der arabischen Welt Demokratie bringen. Aber es scheint, dass nur Tunesien diesen Weg gefunden hat. In Syrien nahm die Entwicklung die wohl schlimmste Wendung. Wie erklären Sie sich das?

Schami: Syrien hat das historische Pech, einen strategisch wichtigen Platz einzunehmen. Tunesien ist ein Touristenland am Rande der arabischen Welt. Es gibt kaum Konflikte in seiner Umgebung. Im Falle Syriens wäre es dagegen einfacher, die Mächte aufzuzählen, die sich nicht einmischen. Die USA, Russland, China, der Irak, der Libanon, die Türkei, Saudi-Arabien, Qatar, Israel und der Iran – für alle diese Staaten ist Syrien eine Arena ihrer Konflikte geworden. Und der IS, gestern entstanden, ist heute bereits ein Mitspieler in diesem blutigen Spiel. Hinzu kommen der Nahost-Konflikt und die Kurdenfrage.

Darum kann ich nicht an eine baldige Lösung des Konflikts glauben. Sobald eine Seite geschwächt wird, gewinnt die andere an Stärke. Kaum haben die Kurden Waffen bekommen und aus ihren Dörfern heraus tapfer den IS bekämpften, da wurden sie von der Türkei angegriffen. Weil sie Erdoğan im Parlament eine Niederlage bereitet haben, empfindet der türkische Präsident sie in seinem größenwahnsinnigen Traum als Hindernis. Geführt aber wird diese Abrechnung auf Kosten Syriens. Die Kämpfe finden an der syrischen Nordgrenze statt, und sie schwächen die Kurden, die vielleicht besser ein Koalitionspartner im Kampf gegen den IS gewesen wären.

Ihr neuer Roman "Sophia oder Der Anfang aller Geschichten" setzt sich mit der Zeit unmittelbar vor dem Aufstand in Syrien auseinander. Tante Amalia, eine besonders faszinierende Frau in Ihrem Roman, die nach Ansicht der Titelfigur Sophia gleich drei Revolutionen verkörpert, glaubt selbst nicht an die Revolution…

 Buchcover des Romans "Sophia oder Der Anfang aller Geschichten" von Rafik Schami; Foto: Carl Hanser Verlag
In seinem neuen Roman "Sophia oder Der Anfang aller Geschichten" unterstreicht Rafik Schami, der Mitte der 1970er Jahre aus politischen Gründen seine Heimat Syrien verlassen musste, dass der Frieden zwischen Menschen verschiedener Religionsgemeinschaften nur in den Herzen eines jeden Einzelnen beginnen kann.

Schami: Mich interessiert diese Zeit besonders, wenn die Erde anfängt, zu beben und die ersten Risse in der Decke des Regimes entstehen. Tante Amalia kritisiert die bewaffneten Gruppen. Sie spricht über den Betrug mit dem Wort "Revolution". Ich habe das bei Kopernikus gefunden, dessen Biografie mir zufällig in die Hände fiel. Ich bin ja selbst Naturwissenschaftler. Aber darauf war ich nicht gekommen, dass die Wiederholung schon in der Vorsilbe "re" steckt. Revolution bezeichnet eine sich wiederholende, kreisförmige Bewegung. Mit einem militärischen Aufstand, einer Revolution oder einem Putsch ersetzen wir folglich nur einen verbrauchten Diktator durch einen neuen und drehen uns immer im selben Kreis.

Dann hatte die Revolution in Syrien von Anfang an keine Chance…

Schami: Was in Syrien stattfand, war keine Revolution. Das war ein Volksaufstand, der zivilisierte, mutige Aufstand der Masse, die Demokratie und Freiheit wollte. Da gingen an einem Tag zwei Millionen auf die Straße. Diese Menschen kamen ohne Waffen. Aber dann wurde in die Menge geschossen. Die Verantwortung für die schreckliche Wendung lag von Anfang an bei der Diktatur.

Hatten Sie gehofft, dass der Westen eingreifen würde, als Assad Giftgas gegen sein Volk einsetzte?

Schami: Genau das hätte geschehen müssen. Mit ihrer Duldung haben die europäischen Politiker die Grundwerte ihrer Kultur verraten: Freiheit, Demokratie und Menschenwürde. Plötzlich findet Monsieur Hollande Begründungen für einen Dialog mit Assad. Und Gerhard Schindler, der Chef des Geheimdienstes in Deutschland, verhandelt mit dem Chef des syrischen Geheimdienstes. Das ist ein Mörder! Und das alles geschieht ohne das Wissen der deutschen Parlamentarier. Und in dieser Zeit verwandelt sich die rote Linie eines amerikanischen Präsidenten in ein Gummiband.

Der ägyptische Schriftsteller Alaa al-Aswani betonte mit Blick auf den IS, die Weltgemeinschaft müsse zusammenwirken, um diese Organisation loszuwerden. Sehen Sie das auch so?

Schami: Statt sich auf Drohnen zu verlassen, müssten arabische Bodentruppen ins Land geschickt werden. Diese sollten mit ausländischer Hilfe zusammengestellt werden. Araber müssen jedoch auch dabei sein, weil sie sich auskennen - im Unterschied zu den amerikanischen Truppen, die mit Hubschraubern eingeflogen werden und sich überhaupt nicht zurechtfinden.

In Ihrem Roman nennen Sie die Flucht einen ständigen Begleiter der arabischen Kultur. "Flucht ist Neubeginn, ist Hoffnung…", lassen Sie Ihren Protagonisten sagen. Glauben Sie, dass die Flüchtlinge in Europa einen Neubeginn haben werden? Man redet jetzt schon von ihrer Rückkehr…

Syriens Präsident Baschar al-Assad während eines Truppenbesuchs bei Damaskus; Foto: AP
"Nicht die, die nach Freiheit gerufen haben, sind für die Misere verantwortlich. Die Katastrophe entstand durch die Stupidität der Welt, die es diesem Diktator erlaubt hat, an der Macht zu bleiben", sagt Schami.

Schami: Die islamische Zeitrechnung beginnt weder mit dem Geburts- noch mit dem Todestag des Propheten Mohammed, sondern mit dessen Flucht von Mekka nach Medina. Das ist ein gewaltiges Symbol. Die Flucht wirkt lebensrettend. Wie das Leben danach ausschaut, darüber sagt dieser Spruch nichts aus. Er bezieht sich nur auf den Moment der Flucht. Sobald man sich entschließt zu fliehen, beginnt das Leben neu. Das habe ich bei einem chinesischen Weisen gelesen. Man braucht sich für seine Flucht nicht zu schämen. Man kann neu anfangen. Und da öffnen sich viele Straßen. Manche der Flüchtlinge wandern nach Amerika oder Australien aus. Das ist dann meist endgültig, sie kommen nicht mehr zurück. Andere warten und wollen lieber heute als morgen wieder zurückkehren. Manche bleiben hier, vor allem die gut ausgebildeten. Mit etwas Sprachkenntnissen eröffnet sich für sie schnell eine neue Lebensperspektive. Leider werden sie uns dann fehlen. Jeder Arzt, jeder Techniker, der hier bleibt, fehlt beim Wiederaufbau Syriens. Aber das ist das Schicksal jedes Einzelnen. Da darf man sich nicht hochnäsig als Richter hinstellen und urteilen.

Angesichts der zahlreichen Flüchtlinge gibt es in Deutschland viel Hilfsbereitschaft unter der Bevölkerung. Es gibt aber auch Stimmen, die mit einer gewissen Schadenfreude argumentieren. Nach dem Motto: Das habt Ihr jetzt von Eurer Revolution"!

Schami: Das ist reine Häme, die oft von den unbelehrbaren Anhängern der Diktatur kommt, als ein Versuch, Verbrecher und Opfer gleichzusetzen, Ursache und Wirkung durcheinander zu bringen. Nicht die, die nach Freiheit gerufen haben, sind für die Misere verantwortlich. Die Katastrophe entstand durch die Stupidität der Welt, die es diesem Diktator erlaubt hat, an der Macht zu bleiben.

Die syrische Schriftstellerin Samar Yazbek meinte, die vordringliche Aufgabe bestehe darin, Baschar al-Assad abzusetzen…

Schami: Die Europäer wollen uns durch ihre Vermittlung nahe bringen, man müsse mit Assad einen Kompromiss finden. Aber das ist unmöglich. Man kann mit einem Mörder, der 250.000 Tote auf dem Gewissen hat und Zivilisten mit Giftgas bombardiert, nicht über einen Kompromiss verhandeln. Er muss weg. Aber wir Syrer müssen lernen, zu verzeihen. Ohne Verzeihung kann man keine Demokratie aufbauen. Also muss eine Übergangsregierung zusammen aufgebaut werden, auch mit Leuten die dem Regime dienten ohne jedoch ihre Hände in Blut besudelt zu haben.

Ihr neuer Roman ist ein wunderbares Plädoyer gegen Ideologie. Aber zeugt es nicht von ideologischer Verblendung, wenn man den Vorwurf erhebt, man habe die letzten Reste des Sowjetimperiums beseitigen wollen, und das sei nun das Ergebnis? Findet erneut ein Stellvertreterkrieg statt?

US-Kampfdrohne MQ-1 Predator; Foto: picture-alliance/dpa/U.S. Air Force/Tech. Sgt. E. Lopez
Aussichtsloser Drohnenkrieg im Kampf gegen IS-Dschihadisten: "Statt sich auf Drohnen zu verlassen, müssten Bodentruppen ins Land geschickt werden. Diese sollten mit ausländischer Hilfe zusammengestellt werden", meint Rafik Schami.

Schami: In gewisser Hinsicht. Putin versucht, politisch einzuholen, woran er in der Wirtschaft gescheitert ist. Wirtschaftlich hat Russland auf Weltniveau überhaupt nichts zu sagen. Da stehen Westeuropa, China, die USA, Brasilien und vielleicht Singapur im Vordergrund. Russische Waren –abgesehen von Waffen – sind nirgends zu finden. Putin handelt wie ein Kolonialherr. Er schickt Waffen auf die Krim und in die Ukraine, und er unterstützt die Diktatur in Syrien, weil er in dieser reichen und strategisch wichtigen Region mitmischen will und die Militärbasis in Tartus behalten will, den einzigen Warmwasserhafen für seine U-Boote. Hätte Putin einen Gegenspieler vom Format eines Helmut Schmidt oder Willy Brandt, hätte der ihm längst Einhalt geboten. Aber eine solche Persönlichkeit gibt es unter den heutigen Politikern in Westeuropa nicht. Ihre zwergenhafte Gestalt lässt Putin zum Riesen werden.

Wir sind an einem Punkt angelangt, wo man nicht nur "die bösen Buben", den Iran, Russland und China, benennen sollte, sondern auch nach dem Westen fragen muss. Wo sind die Werte der Freiheit des Westens? Wie kann er zulassen, dass in der Nähe von Israel Giftgas hergestellt wird? Es sind nachweislich französische, deutsche, holländische und sogar amerikanische Firmen, die sich an der Herstellung von Giftgas beteiligen. Was wird hier gespielt?

Man redet im Westen viel von Demokratie. Manchmal hat man jedoch den Eindruck, als wolle man in der arabischen Welt eigentlich keine Demokratie…

Rafik Schami: Das stimmt leider. Ich hege diesen Verdacht seit vier Jahren. An welche Experten sind die Politiker in Europa da nur geraten! Als wäre eine arabische demokratische Regierung nicht daran interessiert, das Erdöl zu verkaufen. Ohne den Verkauf des Erdöls bricht die arabische Welt zusammen. Auch unter einer Demokratie müssen wir das Erdöl auf dem Weltmarkt verkaufen.

Auch wenn ich mit dieser Aussage viele frustrieren muss: Anscheinend besteht kein Interesse, dass wir demokratisch regiert werden. Mit Saudi-Arabien kommt man zurecht. Die USA haben dort sogar mehrere militärische Basen errichtet. Die hat nur den Zweck, das saudische Königshaus vor einem Putsch oder einer Revolte zu schützen. In Qatar ist die größte CIA- und Kommandozentrale der USA im Nahen Osten. Saudi-Arabien und Qatar unterstützen die Fundamentalisten mit Geld. Es gibt Verdachtsmomente, dass sie sogar den IS unterstützen, weil die Mitglieder dieser Organisation sunnitische Fundamentalisten sind. Wollen mir die Amerikaner erzählen, sie können die Bundeskanzlerin aushorchen und wissen nichts von der Rolle Qatar und Saudi-Arabien? Und dann tut man so, als würde man gegen den IS arbeiten. Was ist das für eine Schizophrenie!

"In den arabischen Ländern wird es keine Veränderung geben, solange nicht die Struktur der Sippe zerschlagen wird, die uns körperlich und geistig versklavt", lassen Sie weise Tante Amalia sagen. Stellt die Sippenstruktur ein Hindernis für die Demokratisierung dar?

Der saudische Kronprinz Mohammed bin Nayef zu Besuch bei Barack Obama im Weißen Haus; Foto: Reuters/K. Lamarque
Falscher Bündnispartner: "Mit Saudi-Arabien kommt man zurecht. Die USA wollen da sogar eine militärische Basis errichten. Die hat nur den Zweck, das saudische Königshaus vor einem Putsch oder einer Revolte zu schützen. Saudi-Arabien und Qatar unterstützen die Fundamentalisten mit Geld. Es gibt Verdachtsmomente, dass sie sogar den IS unterstützen."

Schami: In der Sippe steht Loyalität an oberster Stelle. Das widerspricht den Ideen von Freiheit und Demokratie. Denn in der Demokratie gilt das Gesetz. Entstanden ist die Sippe aus historischen Gründen, weil man in der Wüste nur als Sippe überleben kann. Heute bildet sie das Grundelement der arabischen Gesellschaft. Ihr Aufbau ist pyramidenförmig. An der Basis befinden sich die Kleinfamilien. Aber die soziokulturellen, politischen und historischen Verbindungen innerhalb der Sippe sind so filigran, dass man darauf keinen Staat aufbauen kann.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Im Südjemen herrschten einst Marxisten, Leninisten und furchtbare Stalinisten. Eines Tages gerieten sie miteinander in Streit. Da wurden im Politbüro die Pistolen gezückt. Das sage ich nicht metaphorisch. Es geschah wirklich. Aber es schossen nicht etwa Marxisten und Stalinisten aufeinander, sondern Bruder, Schwager und Schwiegervater der einen Sippe auf Bruder, Schwager und Schwiegervater der anderen Sippe. Zuvor hatten sie miteinander regiert. Die politischen Differenzen aber verschwanden völlig hinter der Sippenzugehörigkeit. Das ist keine demokratische Art, politische Meinungsverschiedenheiten zu lösen.

Darum ist die Zerschlagung der Sippe die Voraussetzung der Demokratisierung. Die Sippe fesselt uns. Assad zum Beispiel hat keinen Experten, sondern nahezu einen Analphabeten zum Kultusminister bestellt, weil er ein Cousin neunten Grades von ihm ist. Damit kann er auch sicher sein, dass dieser niemals etwas gegen ihn unternehmen wird, egal was er anstellt. Die Sippe diktiert absolute Loyalität, unabhängig von Recht oder Unrecht. Dass dabei die Kulturarbeit durch solche dummen Minister zugrunde geht, interessiert den Herrscher nicht.

Könnte es im Zuge der fortschreitenden Urbanisierung nicht zu einer Auflösung oder zumindest Lockerung der Sippenstrukturen kommen?

Schami:

Ich bezweifle das. Damaskus ist eine Metropole. Auch Kairo ist eine Weltstadt. Was wir vielmehr bräuchten, wären mutige Politiker, wie es einst Kemal Atatürk in der Türkei war. Er vollzog einen radikalen Schnitt zum Osmanischen Reich. Sogar die arabische Schrift schaffte er ab, und vor allem setzte er die Zivilehe durch. Ein solcher Schnitt müsste in der arabischen Welt erfolgen.

Diese mutigen Politiker müssen aufstehen und konstatieren, dass in der Politik künftig nicht mehr die Bande der Verwandtschaft zählten, sondern es Parteien gebe, die demokratisch vom Volk gewählt würden. Auch hätten alle dem Gesetz zu gehorchen, das etwa Ehrenmorde verbiete. Der Ehrenmord ist eine Erfindung der Sippe. Gegenwärtig wird er mit zweieinhalb Jahren Haft geahndet. Das ist unfassbar. Der Staat kniet vor der Sippe.

Eine städtische Gesellschaft täte sich wahrscheinlich leichter, einen solchen Schnitt zu vollziehen. Ländliche Gesellschaften brauchen bis heute den Zusammenhalt der Sippe für gegenseitige Hilfe. Die Sippe ersetzt den Staat. Hier muss der Staat die Bauern zur Selbstständigkeit helfen. Der Staat hat bis heute keine Arbeitslosenversicherung, weil die Sippe allen ihren Angehörigen Arbeit verschafft, keine Krankenversicherung, weil die Sippe die Kosten für die Behandlung ihrer Angehörigen gemeinsam trägt, keine Rentenversicherung, weil die Sippe sich um die Alten kümmert. Für alles sorgt die Sippe. Darum ist unser Staat korrupt, weil die Sippe ihn von vielen der Aufgaben, die er zu erfüllen hätte, befreit. Das erlaubt wiederum einem Cousin des Präsidenten namens Rami Machluf mit 45 Jahren sechs Milliarden Dollar aus Syrien zu rauben und nach Dubai zu bringen. Das Geld hätte gereicht, um den größten Teil der wirtschaftlichen Probleme Syriens zu lösen. Der Aufbau solcher staatlichen Sicherungen für die Bevölkerung ist die erste radikale Reform, die die Sippe zu Grabe trägt.

Der russische Präsident Wladimir Putin; Foto: AFP/Getty Images/A. Nikolsky
Dem Autokraten in Moskau kein Paroli geboten: "Hätte Putin einen Gegenspieler vom Format eines Helmut Schmidt oder Willy Brandt, hätte der ihm längst Einhalt geboten. Aber eine solche Persönlichkeit gibt es unter den heutigen Politikern in Westeuropa nicht. Sie lassen Putin spielen", so Rafik Schami.

Mit dem Hinweis auf die Räterepublik der Qarmaten im 11. Jahrhundert zeigen Sie, dass in der arabischen Welt durchaus Traditionen für einen Gegenentwurf vorhanden sind. Könnte man daran anknüpfen?

Schami:Von den Islamisten wird immer der Vorwurf erhoben, wir seien Vertreter der Kolonialisten. Aber wir müssen nicht die europäische Demokratie kopieren. Weder den englischen, noch den französischen oder deutschen Parlamentarismus brauchen wir zu übernehmen. Wir können aus den demokratischen Traditionen unserer eigenen Kultur schöpfen. Die Republik der Qarmaten hielt 150 Jahre lang an. Von ihnen lernen wir, wie eine Frau tatsächlich auf Augenhöhe mit dem Mann gestanden hat. Es wäre interessant herauszufinden, welche Prinzipien sie hatten. Auch von der Philosophie der Sufis können wir viel für unsere Demokratie gewinnen von dem großen Märtyrer al Halladsch, über Salman Alfarsi, Abdulqadir al Dschili, Ibn Arabi bis hin zu Hadi al Alawi. Hier können wir kritisch aus diesem Fundus schöpfen und die Erfahrungen anderer Völker hinzunehmen, um eine lebendige Verfassung zu schaffen, deren ersten Paragraphen die Freiheit und Würde der Menschen garantieren. Eine auf dieser Basis geschaffene Demokratie wäre in unserer Kultur verwurzelt und hat Zukunft.

Sie beklagten einmal, dass die Leistungen der arabisch-islamischen Kultur hierzulande kaum wahrgenommen würden. Stattdessen seien die Urteile darüber geprägt von Überheblichkeit und Unkenntnis. Werden die Flüchtlinge in Europa daran etwas ändern? Werden sie Verständnis schaffen?

Schami: Darauf lässt sich nur mit Vorsicht antworten. Die Zukunft bringt manchmal Überraschungen. Ich vermute, dass in einem Teil der Gesellschaft die Überheblichkeit zunehmen wird, weil man sich diesen Menschen, die Hilfe brauchen, sich nicht äußern können und die Spielregeln der neuen Gesellschaft nicht beherrschen, überlegen fühlt. Zugleich aber wird in anderen Schichten die offene, verständnisvolle, von Liebe getragene Haltung steigen, vor allem unter jenen, die tatsächlich mit den Flüchtlingen in Kontakt kommen und auf Augenhöhe mit ihnen arbeiten. Insofern wird es zu einer Spaltung kommen wie bei allen Prüfungen. Die Flüchtlinge sind eine Prüfung für die europäische Gesellschaft.

Das Gespräch führte Ruth Renée Reif.

© Qantara.de 2015

Rafik Schami wurde 1946 unter dem Namen Suheil Fadél in Damaskus geboren. Er stammte aus einer alten aramäischen Familie. Schon früh veröffentlichte er Erzählungen und Märchen, 1966 gründete er die kritische literarische Wandzeitung "Al-Muntalak" (Der Ausgangspunkt) im alten Stadtviertel von Damaskus, die 1970 verboten wurde. 1971 emigrierte er nach Deutschland und etablierte sich 1982 unter dem Pseudonym Rafik Schami (Freund aus Damaskus) als freier Schriftsteller. 1980 war er Mitbegründer der Literaturgruppe Südwind und wirkte als Mitherausgeber der Reihe Südwind-Literatur. 2011 gründete er die Literaturreihe Swallow Editions für Literatur aus den arabischen Ländern, deren Herausgeber er auch ist. Die Reihe will eine Brücke bauen, die die arabischen Autoren mit den Lesern anderer Kontinente verbindet. Rafik Schamis Werk, zu dem auch Kinderbücher und Essays über politische Vorgänge in Nahen Osten zählen, wurde in 28 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.