Abschied von einer Zwei-Staaten-Lösung
Herr Nusseibeh, Sie waren lange Zeit ein Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung. Nun sagen Sie, dass ein palästinensischer Staat nicht länger "praktisch oder realistisch" ist. Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?
Sari Nusseibeh: Es ist nicht meine Meinung, die sich geändert hat, sondern es ist die Realität. Die Geschichte steht nicht still, sondern bewegt sich kontinuierlich weiter. Was daher vor zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren noch möglich und realistisch erschien, ist heute nicht mehr machbar, weil sich vor Ort Veränderungen ergeben haben. In unserem speziellen Fall ist Verschiedenes passiert, aber der wichtigste Aspekt ist das Wachsen der Siedler-Bewegung. Das ist das Haupthindernis für die Zwei-Staaten Lösung. Ich spreche hier von einer halben Million Siedler in einer Zeitspanne von 1967 bis heute.
Was halten Sie von den umstrittenen Vorschlägen für einen Gebietsaustausch, um eine beidseitig akzeptable Zwei-Staaten-Lösung zu erreichen?
Nusseibeh: Theoretisch und mit viel Fantasie könnte ein Gebietsaustausch umgesetzt werden. Aber ich denke, das wird vor allem im heutigen Kontext schwierig werden, da die politischen Akteure auf beiden Seiten dazu noch nicht die nötige Reife haben. In Israel bewegt sich die Gesellschaft verstärkt zur Rechten und ist deshalb nicht im gleichen Maße zu Kompromissen bereit ist, wie sie es vielleicht noch vor zehn Jahren war. Auf der palästinensischen Seite ist das politische Lager gespalten, so dass nicht mit einer Stimme gesprochen wird und daher nicht jene Zugeständnisse gemacht werden können, die notwendig sind.
Wenn wir uns diese beiden politischen Realitäten vor Augen halten, dann können wir nur schlussfolgern, dass es wohl eines Wunders bedarf, damit eine Zwei-Staaten-Lösung zustande kommt. Natürlich würde ich dies begrüßen. Wenn Gott einen Engel mit der Zwei-Staaten-Lösung im Gepäck schicken und sie den beiden Völkern anböte, würde ich danach greifen.
Ich denke, die Mehrheit der Bevölkerung auf beiden Seiten wäre dafür. Für mich ist die klassische Zwei-Staaten-Lösung insofern die beste Lösung, da sie für alle den geringsten Schmerz bedeutet. Aber es sieht nicht danach aus, dass dies geschieht.
Wie beurteilen Sie die demographische Entwicklung in Israel angesichts des Bevölkerungsanteils von rund 20 Prozent israelischer Araber im Land?
Nusseibeh: Ja, es gibt einen großen arabischen Bevölkerungsanteil in Israel - vielleicht sind es über eine Million Menschen, die rund 20,25 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.
Wie sollen wir also handeln? Entweder wir lassen die Dinge unvollendet, so wie sie sind. Das bedeutet aber mehr Extremismus auf beiden Seiten, mehr Elend, Kämpfe und Verderben. Oder wir müssen uns neue Ideen einfallen lassen. Eine wäre ein Kondominium oder eine Konföderation von zwei Staaten. Und vielleicht ist diese zweite Option realistischer und schneller umsetzbar als die erste.
Es existiert bereits heute eine recht bemerkenswerte Vermischung. Und eine Teilung macht im Prinzip auch keinen Sinn, weshalb es sinnvoller erscheint, zu vereinen. Ich denke an eine Konstellation ähnlich wie in Europa, mit einem gemeinsamen Wirtschaftsraum und zwei Regierungen – einer jüdischen Regierung und einer arabisch-palästinensischen Regierung. Die Bürger sollen frei reisen und arbeiten können, zudem gibt es einen freien Warenverkehr und einen gemeinsamen Markt.
In Ihrem neuen Buch "Ein Staat für Palästina?" schlagen Sie eine interessante und vielleicht provozierende neue "Road Map" vor, die schlussendlich einen föderalen israelisch-palästinensischen Staatenbund vorsieht. Dann schreiben Sie, dass "Israel die besetzten Gebiete offiziell annektiert". Das gesamte Gebiet soll demnach von Israel regiert werden. Dafür erhalten die Palästinenser eine "Staatsbürgerschaft zweiter Klasse" – das heißt Bürgerrechte, aber keine politischen Rechte wie z.B. das Wahlrecht. Aber warum sollten die Palästinenser daran interessiert sein, als Bürger zweiter Klasse in einem jüdischen Staat zu werden?
Nusseibeh: Das klingt schrecklich, aber das Problem ist folgendes: Die Palästinenser leben seit mehr als vierzig Jahren unter israelischer Herrschaft. Sie haben weder einen unabhängigen Staat noch volle Bürgerrechte innerhalb Israels. Fragt man die Israelis: Warum gebt Ihr ihnen keinen unabhängigen Staat? Dann variiert die Antwort, aber vor allem geht es um Sicherheitsbedenken. Und wenn man sie fragt: 'Warum gebt Ihr ihnen dann nicht zumindest Bürgerrechte?' Dann sagen sie: 'Das Problem ist, dass sie dann als nächstes auch politische Rechte verlangen. Und ehe man es sich versieht, ist unser Staat nicht mehr jüdisch, sondern in den Händen der Araber.' Das ist natürlich eine Ausrede, um uns letztlich gar keine politischen Rechte zu geben.
Folglich hängen die Palästinenser im Westjordanland und im Gaza-Streifen in der Luft. Weder bewegen sie sich in Richtung eines unabhängigen Staates, noch gehören sie vollständig zu Israel oder verfügen über volle politische Rechte. Als Antwort auf Israels Argumentationsweise sage ich: 'Ihr könnt den jüdischen Charakter Eures Staates weiterhin wahren, Ihr könnt weiterhin die Regierung stellen. Aber in der Zwischenzeit, solange bis eine endgültige Lösung gefunden ist, gebt uns Palästinensern grundsätzliche Bürgerrechte, die jedem Menschen zustehen: Bewegungsfreiheit, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Warentransfer, Zugang zu Rechtsdienstleistungen, Zugang zum Gesundheitswesen und zu Sozialleistungen.' Doch all dies wird bislang verweigert. Was ich daher vorschlage, ist lediglich ein Zwischenschritt.
Ihr Vorschlag lautet also: volle Bürgerrechte für Palästinenser ohne politische Mitwirkung als Zwischenlösung bis zum Ziel eines binationalen demokratischen Staates oder einer Konföderation zwischen Palästinensern und Israelis. Es ist offenkundig, dass dieser von Ihnen vorgeschlagene Zwischenstatus keinen demokratischen Charakter aufweist, denn dieser "Übergangsstaat" würde doch die religiösen und ethnischen Abgrenzungen innerhalb der Bevölkerung übernehmen.
Nusseibeh: Nein, dieser Staat wäre ja auch nicht demokratisch, doch er wäre wohl eine bessere "Nicht-Demokratie" als wir sie heute haben. Und dieser Schritt würde einen neuen Weg für die Zukunft ebnen. Wir sollten nicht in statischen Kategorien denken. Ich spreche hier nicht von einer endgültigen, sondern betrachte diesen Schritt als Mittel für eine Veränderung der momentanen Situation, der vorherrschenden Einstellungen und Geisteshaltungen. Denn wenn sich die Situation weiter wie bisher entwickelt, bedeutet das nichts Gutes für uns.
Man könnte Ihnen vorhalten, dass Ihre "Road Map" die Gefahr eines Apartheidsystems birgt, wenn zwischen Bürgern erster und zweiter Klasse differenziert wird.
Nusseibeh: Den Leuten, die das behaupten, würde ich antworten: Sie übersehen die Tatsache, dass wir bereits heute in einem Apartheidsystem leben. Meine "Road Map" ist ein Fahrplan, aus der Apartheid heraus zu kommen und die Situation zu verbessern. Ich mag es nicht besonders, dieses Wort zu verwenden, weil es provoziert und ich keinen Grund sehe, zu provozieren.
Aber es ist eine Tatsache, dass bereits ein duales System existiert - es gibt den Herrscher und die Beherrschten. Die israelische Regierung kontrolliert das gesamte Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer. Wir müssen uns emanzipieren und uns von dieser Herrschaft befreien. Und wenn wir einen Schritt in Richtung Bürgerrechte gehen, ist das meiner Meinung nach keine schlechte Sache.
Ihr "Experiment" ist bereits in Jerusalem Wirklichkeit...
Nusseibeh: Richtig. Die Situation ist dort zumindest besser als in Gaza oder in einigen abgelegenen Ortschaften im Westjordanland. Wenn Sie die Lebenssituation unter der Besatzung betrachten, dann erfahren die Palästinenser im Westjordanland und in Gaza weitaus mehr Restriktionen und Erniedrigungen als diejenigen Palästinenser, die in Ostjerusalem leben. Ihre Lebensbedingungen sind alles andere als wünschenswert, tatsächlich stehen sie aus zahlreichen Gründen unter Druck.
Dennoch geht es ihnen besser als den Palästinensern, die im Belagerungszustand in Gaza leben. Dort können sich die Menschen nicht frei bewegen, es sei denn durch einen Tunnel oder was auch immer. Ich sage daher: Lasst uns über neue Ideen nachdenken. Vielleicht mag mein Vorschlag keine großartige Idee sein. Doch vielleicht gibt er ja den Anstoß für andere Ideen.
Dann wollten Sie mit Ihrem Buch also in erster Linie alternative Möglichkeiten zur Lösung des Konflikts aufzeigen, anstatt endgültige Lösungen anzubieten?
Nusseibeh: Ich wollte, dass die Menschen ihre Hoffnung in die Zukunft nicht verlieren. Und ich wollte die Menschen auf beiden Seiten, Israelis und Palästinenser, daran erinnern, dass es nicht das Wichtigste im Leben ist, dass sie Juden, Muslime oder Christen sind. Wichtig ist vor allem, dass sie Menschen sind. Wenn sie an diesem Punkt ansetzen, werden sie viele Gemeinsamkeiten entdecken, an die sie anknüpfen können. Wenn man fragt: Worin bestehen die wahren Anliegen von Menschen? Was wollen die Menschen in Gaza, was wollen die Menschen im Westjordanland und was wollen die Israelis? Wenn man sich nach diesen Bedürfnissen richtet und das Symbolische ausblendet, dann könnten wir viel mehr erreichen als bisher. Ich möchte Menschen ermutigen, nachzudenken und Fragen zu stellen.
Es sollte nicht erlaubt sein, dass das Leben von großen Interessengruppen, Lobbyisten, Unternehmen, Politikern und Bewegungen dominiert wird. Für mich steht das Individuum im Vordergrund. Individuen haben all diese Lobbys, Interessengruppen und Bewegungen geschaffen. Doch es ist an den Individuen, sich nicht von ihren eigenen Ideen versklaven zu lassen.
Interview: Naima El Moussaoui
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Sari Nusseibeh: "Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost", Verlag Antje Kunstmann, übersetzt von Gabriele Gockel & Katharina Förs, 208 Seiten, Februar 2012