"Religiöse Motive sind bei Anschlägen nachrangig"
In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich mit den Selbstmordanschlägen im israelisch-palästinensischen Konflikt. Sie bezeichnen diese Anschläge jedoch als Selbsttötungsanschläge. Warum verwenden Sie gerade diesen Ausdruck? Kommt er nicht einer Verharmlosung gleich?
Thorsten Gerald Schneiders: Das denke ich nicht. Zunächst einmal soll das ein Signal sein. Als diese Arbeit entstanden ist im Jahr 2002, ziemlich am Anfang der Anschlagswelle, gab es logischerweise eine sehr einseitige Sicht der Dinge. Um eine neutrale Herangehensweise an dieses hoch emotionale und brisante Thema zu ermöglichen, ist die Überlegung entstanden, das Wort "Mord" herauszunehmen.
Das Wort Selbstmord wird auch von Suizidologen vermieden. Es schwingt einfach eine bestimmte Bedeutung mit, wie beispielsweise das Töten aus niederen Beweggründen, und das kann ich bei diesen Anschlägen jedenfalls nicht erkennen.
Mir geht es nicht darum, die Selbsttötungsanschläge zu rechtfertigen oder zu verteidigen. Durch den Begriff "Anschlag" wird das meiner Meinung nach auch sehr deutlich. Ein Anschlag ist letztlich eine terroristische Handlung und das ist es, was dort geschieht.
Sie haben Ihr Buch unter dem Titel "Heute sprenge ich mich in die Luft – Suizidanschläge im israelisch-palästinensischen Konflikt" veröffentlicht. Was sind das für Leute, die sich in die Luft zu sprengen? Welche Motive haben sie?
Schneiders: Zunächst ist die Erkenntnis wichtig, dass die Täter keine Psychopathen sind, sondern im Gegenteil normale Menschen, die bewusst eine Entscheidung treffen. Sie stellen eigentlich einen Querschnitt der Gesellschaft dar: Männer, Frauen, Ältere, meist aber eher jüngere Leute, Gebildete, Ungebildete, usw. Wenn man sich das vergegenwärtigt, muss man nach den Auslösern fragen.
Thorsten Gerald Schneiders ist Politologe und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religion des Islam am Centrum für religiöse Studien der Westfälischen-Wilhelms Universität Münster.Ich bin der Auffassung, dass es sich dort in aller erster Linie um einen politischen Konflikt handelt, und es somit vor allem politische Motive sind, die aus der Besatzung und den miserablen Lebensbedingungen in den besetzten Gebieten – jedenfalls verglichen mit den israelischen Lebensbedingungen – heraus entstehen. Erst in neuerer Zeit ist zudem ein religiöser Konflikt entstanden, obwohl ich ihn auch heute nicht als Religionskonflikt bezeichnen würde. Die Religion wird letztlich von beiden Seiten für ihre Zwecke instrumentalisiert. Religiöse Motive sind nachrangig.
Ein weiterer Auslöser sind die persönlichen Motive der Menschen. Und die sind breit gestreut: Das kann Rache sein, beispielsweise dafür, dass Familienmitglieder von israelischen Soldaten gedemütigt oder sogar getötet wurden. Das können schlicht suizidale Tendenzen sein oder die Möglichkeit, die Familie zu ernähren, da die Familien der Attentäter, wie es heißt, von bestimmten Organisationen, wie der Hamas, mit Geld unterstützt wurden.
Für uns vielleicht unvorstellbar, aber wenn man aufgrund der Situation keine Möglichkeit hat, Geld zu verdienen, um die Familie zu versorgen, dann kann sich unter den dortigen Lebensbedingungen das Motiv entwickeln, sich in die Luft zu sprengen, um mit dem Geld, das dafür bezahlt wird, den Unterhalt der Hinterbliebenen zu sichern.
Wenn man diese Komponenten betrachtet, dann habe ich ein Konglomerat aus Ursachen. Das bezeichne ich im Buch als System der Motivationen, aus dem sich für jeden einzelnen Attentäter im israelisch-palästinensischen Konflikt sein spezifisches Motivationsmuster zusammenstellen lässt. Das heißt, ich habe Täter, die zu einem gewissen Teil aus politischen Beweggründen, zu einem gewissen Teil aus religiösen, und zu einem gewissen Teil aus persönlichen Motiven handeln.
Unterschätzen Sie damit nicht die Rolle, die der Islam bei den Anschlägen im israelisch-palästinensischen Konflikt spielt?
Schneiders: Natürlich kommt einem sofort in den Sinn, dass der Islam der Hauptauslöser sei. Aber ist es nicht auch das, was Islamisten glauben machen wollen? Ich wollte mich der These kritisch nähern. Es ist richtig, dass derzeit die meisten Anschläge weltweit mit islamistischem Hintergrund verübt werden.
Was dabei leicht vergessen wird, ist, dass bis zum Irak-Krieg 2003 die meisten Selbsttötungsanschläge auf Sri Lanka verübt wurden. Dort kann der Islam nicht als Hintergrund dienen. Genauso muss man sich vergegenwärtigen, dass mit Abstand die größte Anzahl an Selbsttötungsanschlägen in der Geschichte, nämlich weit über 1000, durch die bekannten Kamikazeflieger aus Japan verübt wurde. Das sollte zu denken geben.
Außerdem sind die Palästinenser seit den vergangenen rund hundert Jahren eher säkular geprägt – PLO als Stichwort, die exemplarisch für den palästinensischen Kampf um ein eigenes Territorium stehen kann.
Erst Mitte der 80er Jahre bemerkte man, dass dieser säkular-nationalistische Widerstand zu nichts führte. Man kehrte den alten aus Europa importierten Ideen des Nationalismus den Rücken und suchte nach etwas Eigenständigem. Dieses ist leidlicherweise der Islamismus geworden, der sich nun eben auch in den neuen Generationen unter den Palästinensern verbreitet hat.
Des Weiteren können wir seit den 80er bzw. seit den 90er Jahren einen Boom des sunnitischen Islamismus beobachten. Aufgrund dieser immer populäreren Ideologie, ist es nicht verwunderlich, dass bestimmte Menschen und Gruppierungen auf den Zug aufspringen, um davon zu profitieren.
Hier gehen dann praktisch zwei Dinge zusammen: die uralte Idee der Selbsttötungsanschläge und die neue Entwicklung des Islamismus, und das vor dem Hintergrund der zahlreichen Konflikte in islamisch dominierten Ländern der Erde.
In Ihrem Buch bemerken Sie insbesondere seit Beginn der zweiten Intifada einen enormen Anstieg der Anschlagswelle in Israel. Wieso kommt es zu diesem plötzlichen, krassen Anstieg der Anschläge?
Schneiders: In der Zeit vor der zweiten Intifada, im Jahr 2000, befand man sich in einer Phase großer Euphorie auf palästinensischer wie auch auf israelischer Seite. Trotz diverser Rückschläge in den 90er Jahren deutete fast alles auf einen Frieden hin, auf einen palästinensischen Staat.
Camp David im Sommer 2000 sollte diesbezüglich der Höhepunkt sein. Clinton, Arafat und Barak sollten mit einem Friedensabkommen nach Hause kommen. Wie wir alle wissen, sind die Verhandlungen gescheitert. Damit ging eine riesige Enttäuschung auf beiden Seiten einher. Man befand sich also in einer Situation, in der man nicht mehr wusste, was man noch tun sollte.
Zu dieser Zeit kommt es zu einem ersten Suizidanschlag, der letztlich keine große Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber danach häufen sich die Anschläge peu-á-peu, und im Zuge des weltweiten Islamismus-Booms entsteht die Frage nach einer Legitimation der Selbsttötungsanschläge: Handelt es sich um Selbstmord, der bekanntermaßen verboten ist? Darf man Frauen und Kinder damit angreifen?
Diese Fragen werden gestellt und zu diesem Zeitpunkt auch beantwortet, und zwar so, dass die Täter zu dem Ergebnis kommen, dass die Anschläge gegen Israel erlaubt seien und es sich nicht um Selbstmord handele. Zu nennen ist hier beispielsweise der Name des Fernsehpredigers Yusuf al-Qaradawi, der die Anschläge schon 1996 gutgeheißen hat, aber 2001, dank der Medienentwicklung mit al-Dschasira und dem Internet, erst wirklich Gehör fand.
Eine breite Diskussion entstand, mit Antworten aus Saudi-Arabien, von Gelehrten aus Ägypten und anderswo, wobei die Anschläge leider mehrheitlich für erlaubt erklärt wurden.
Der nächste Aspekt ist, dass die Organisationen feststellten, dass man mit den Selbsttötungsanschlägen Öffentlichkeit herstellen, Israel schaden und bestimmte politische Entwicklungen verhindern kann, wie beispielsweise Friedensinitiativen.
Aus israelischer Sicht stand man 2001, 2002 sogar letztlich kurz davor aufzugeben, weil man meinte, dass es gegen diese Anschläge keine Mittel gäbe. Dadurch entwickelte sich bei den Organisationen das Bild von einer Methode, mit der man plötzlich in der Lage zu sein schien, dem großen, mächtigen Gegner Israel zumindest auf Augenhöhe zu begegnen.
Warum kommt es dann heute zu einem Rücklauf der Selbstmordanschläge?
Schneiders: Aus zwei Gründen: Zum einen haben die israelischen Gegenmaßnahmen schließlich Erfolg, wie der Bau der Mauer, die gezielten Tötungen, die Militäroperationen in den Flüchtlingslagern.
Zum anderen haben auch die Palästinenser einsehen müssen, dass sie mit Suizidanschlägen keinen Erfolg haben und ihr Ziel nicht erreichen werden. Im Gegenteil: Die Suizidanschläge haben dazu geführt, dass noch mehr Vertrauen zerstört worden ist und dass vermutlich sogar noch mehr Land verloren gegangen ist, wenn die Mauer tatsächlich als Grenze festgesetzt wird.
Momentan sieht die Zukunft im Nahostkonflikt wieder mal ziemlich düster aus. Was glauben Sie, gibt es eine Lösung im Nahostkonflikt, und wie sieht diese aus?
Schneiders: Ja, es gibt eine Lösung, und das ist die Zweistaatenlösung. Etwas anderes ist nicht möglich. Bis es soweit kommt und es eine gesicherte Koexistenz beider Staaten gibt, wird aber sicherlich noch eine Weile vergehen. Es ist soviel Vertrauen zerstört worden, aufgrund der jahrelang andauernden Gewalt, dass das noch die eine oder andere Generation brauchen wird.
Ansonsten hängt es an den Politikern auf beiden Seiten. In erster Linie aber an den Politikern in Israel, weil Israel durch die Unterstützung aus dem Ausland sowie durch seine eigene wirtschaftliche und militärische Stärke der mächtigere Akteur in der Region ist. Und von dem erwarte ich eine größere Beweglichkeit als vom Schwächeren. Wann man sich aber dazu durchringt – schwer zu sagen.
Inga Gebauer
© Qantara.de 2007
Thorsten Gerald Schneiders: "Heute sprenge ich mich in die Luft - Suizidanschläge im israelisch-palästinensischen Konflikt", Veröffentlichungen des Centrums für Religiöse Studien Münster, Bd. 6, 2006, 272 Seiten
Qantara.de
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