"Die NATO wird den Kampf nicht mehr lange führen können"

Der UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Tom Koenigs, plädiert dafür, dass die Afghanen so bald wie möglich in die Lage versetzt werden, den Konflikt mit den Taliban selbst auszutragen. Martin Gerner hat ihn in Kabul getroffen.

Tom Koenigs; Foto: Kabul Press
Tom Koenigs: "Einen Sieg, wie man militärische Siege im Mittelalter kannte, gibt es bei solchen asymmetrischen Konflikten nicht."

​​Die Taliban haben angedeutet, dass dieser Winter nicht ruhig sein wird für die Regierung Karsai und für die NATO. Mit was rechnen Sie?

Tom Koenigs: Ich rechne über die Jahreswende nicht mit etwas Bestimmtem, aber ich denke, dass die Intensität des Konflikts zumindest im nächsten Jahr nicht abnehmen wird. Denn die Taliban meinen keineswegs, sie seien besiegt, und auf Seiten der afghanischen Regierung sind die Regierungsstrukturen nicht so stabilisiert, dass man sich mit zivilen und militärischen Mitteln selbst gegen die Taliban verteidigen könnte.

Wie nah an Kabul sind die Taliban tatsächlich?

Koenigs: Es gibt keine festen Frontverläufe. Es handelt sich um einen Volksaufstand, der bestimmte Bevölkerungsgruppen umfasst. Es ist eine asymmetrische Kriegsführung. Im Süden beherrschen die Taliban in sechs Provinzen das flache Land, nicht aber die Städte. Im gesamten Land gibt es terroristische Anschläge, vor allem im Südosten und in der Hauptstadt, und damit wird man auch noch eine Weile rechnen müssen.

Bedeutet Aufstand, dass die Bevölkerung mit den Taliban gemeinsame Sache macht?

Koenigs: Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der mit den Taliban sympathisiert. Manche aus ideologischen Gründen, weil sie glauben, dass Ungläubige nicht ins Land kommen sollten. Manche aus ökonomischen Gründen - wahrscheinlich sind das die meisten -, weil sie sich von den Taliban einen Sold versprechen. Andere wieder, weil die neue Regierung ihren Stamm oder ihre Gemeinde ignoriert hat.

Dann gibt es diejenigen, die glauben, dass der Dschihad nur weltweit siegen könne, und diejenigen, die aus Pakistan kommen und mit internationalen terroristischen Vereinigungen zusammenarbeiten, und wiederum andere, die noch aus der Taliban-Bewegung der späten 1990er Jahre stammen.

Wie kann man diesem vielfältigen Widerstand den Boden entziehen?

Koenigs: Ich glaube, da ist eine ganze Reihe von Maßnahmen notwendig, wobei die militärischen nur einen Bereich abdecken. Ich glaube nicht, dass man diesen Aufstand allein mit militärischen oder polizeilichen Mitteln niederschlagen kann. Sehr viele Aktionen seit dem letzten Sommer sind von pakistanischem Boden ausgegangen. Deshalb muss man die Pakistaner diplomatisch einbeziehen.

Dann muss man die Regierungspräsenz in den Provinzen, in den Distrikten und Gemeinden verstärken, denn bisher war die Regierung meist nur auf die Provinzhauptstädte konzentriert.

Schließlich muss man die Bevölkerung mit Maßnahmen der Entwicklungshilfe einbeziehen. Auch die Justizstrukturen müssen unbedingt in die ferner liegenden Regionen ausgeweitet werden, denn eines der Angebote, das die Taliban machen, ist Gerechtigkeit: Gerechtigkeit gegen Kriminalität, aber auch die Schlichtung von internen Konflikten.

Wenn es keinerlei staatliche und unparteiische Gerichtsbarkeit gibt, wenden sich die Bauern eben an diejenigen, die vor Ort sind, auch wenn es Taliban sind.

Verläuft denn die Kriegsführung der NATO im Süden nach einer klaren Strategie? Präsident Karsai hat unlängst selbst kritisiert, dass immer mehr Zivilisten auch unter den NATO-Angriffen zu leiden hätten.

Koenigs: Man muss zunächst einmal feststellen, dass die Taliban die Zivilisten bei ihren Einsätzen nicht schonen. Die Selbstmord-Attentäter zielen fast ausschließlich auf zivile Opfer. Bedauerlicherweise ist auf der Seite der NATO - zum Beispiel wegen der Bombardements in der letzten Zeit - die Zahl der zivilen Opfer gestiegen.

Nun gibt es sicherlich keinen Krieg, der Zivilisten vollkommen schont, aber es ist die Pflicht aller Seiten, zivile Opfer soweit wie möglich zu vermeiden. Tote Zivilisten, Verletzte und Vertreibung sind außerdem sehr negativ für das Ansehen der internationalen Kräfte.

Deshalb müssen die NATO und die "Coalition Forces" meiner Meinung nach die Afghanen so schnell wie möglich in die Lage versetzen, den Konflikt mit eigenen Kräften auszufechten. Dies findet viel mehr Akzeptanz, und außerdem zieht dann eines der Argumente der Taliban, die behaupten "Das sind fremde Invasoren", nicht mehr.

Denn in der Bevölkerung, und selbst im Süden, sind 80 Prozent gegen die Taliban. Man akzeptiert nicht, was sie ideologisch vertreten, und auch die ständige Bedrohung und die "Talibanisierung" der Kultur werden nicht akzeptiert. Deshalb muss man den Konflikt nationalisieren und die Afghanen in die Lage versetzen, ihn selbst auszufechten.

Was ist denn das Ziel des militärischen Einsatzes? Soll so lange gekämpft werden, bis der letzte Taliban seine Waffe niederlegt?

Koenigs: Ziel ist, dass alle die Autorität der demokratisch gewählten Regierung anerkennen - auch diejenigen, die in der Opposition sind - und die Waffen niederlegen. Das ist auch das Ziel des Mandats der NATO. Das werden die Afghanen langfristig selbst machen müssen, aber auch schon mittelfristig besser können. Darauf müssen wir hinarbeiten.

Einen Sieg, wie man militärische Siege im Mittelalter kannte, gibt es bei solchen asymmetrischen Konflikten nicht. Es gibt nur eine graduell verstärkte Autorität der demokratisch gewählten Zentralregierung und des Rechtsstaats. Das ist genau das, was wir wollen und was die Taliban bekämpfen.

Die Afghanen haben sich eine demokratische Verfassung gegeben, die eine sehr breite Basis in der Bevölkerung hat. Auf dieser Grundlage sollen die staatlichen Institutionen arbeiten. Das ist leider noch nicht der Fall.

Wir kämpfen gegen Korruption, auch Fehlentscheidungen und Fehlbesetzungen seitens der Regierung Karsai in den Provinzen und in den Führungen der Distrikte sind ein Problem.

Welche Rolle soll Deutschland in der militärischen Auseinandersetzung spielen?

Koenigs: Deutschland soll dieselbe Rolle spielen wie alle anderen: unter der Nato-Führung die Stabilisierung des Landes zu garantieren.

Gleichzeitig soll es die Mitarbeiter afghanischer Institutionen ausbilden, damit diese das bald selber machen können. Ich glaube, dass die Zeit drängt, denn lange wird die NATO den Kampf dort nicht mehr selbst führen können.

Zum einen sind wir dazu politisch nicht in der Lage, zum anderen werden die Afghanen die Situation nicht ewig ertragen. Wir müssen deshalb alles daran setzen, die afghanische Polizei und die afghanische Armee in die Lage zu versetzen, diesen Konflikt selber auszufechten. Das würde bei den Menschen, die aus dem Gefühl heraus, dass ihre Souveränität verletzt wird und die dazu neigen, die Taliban zu unterstützen, weniger tiefe Wunden reißen.

Interview: Martin Gerner

© Qantara.de 2006

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