Klischees benutzen, um sie zu brechen

Der Film "Folgeschäden" von Samir Nasr erzählt die Geschichte eines deutsch-algerischen Ehepaares nach dem 11. September. Der Drehbuchautor erhielt den ARD-Medienpreis CIVIS 2005 für das beste Drehbuch. Fahimeh Farsaie sprach mit dem Regisseur.

Der Film "Folgeschäden" von Samir Nasr erzählt die Geschichte eines deutsch-algerischen Ehepaares nach dem 11. September in Deutschland. "Folgeschäden" begeisterte nicht nur Tausende Zuschauer und viele Filmkritiker, der Drehbuchautor erhielt auch den ARD-Medienpreis CIVIS 2005 für das beste Drehbuch. Fahimeh Farsaie sprach mit dem Regisseur.

Samir Nasr; Foto: www.firststeps.de
Samir Nasr: "Mich reizen generell Geschichten, die die Auswirkungen von Politik auf die normalen Menschen zeigen."

​​In Ihrem Film "Folgeschäden" ist Tariq ein algerischer Wissenschaftler, der plötzlich in den Verdacht gerät, Kontakt zu islamistisch-terroristischen Kreisen zu haben. Zwischen den bisher glücklichen Ehepartnern wächst das Misstrauen und zerstört letztlich ihre Beziehung. Warum haben Sie diesen Film gedreht? Um Politik und Ästhetik miteinander zu verknüpfen oder einen Dialog zwischen unterschiedlichen Kulturen zu fördern?

Samir Nasr: "Folgeschäden" war eine Auftragproduktion von SWR, Arte und BR, d.h., dass zunächst die Sender diesen Film machen wollten. Nachdem ich die erste Fassung des Drehbuchs gelesen habe, fand ich die Idee gut. Wir haben aber nach einem halben Jahr Drehbucharbeit die sechste Fassung mit vielen Änderungen realisiert.

Mich reizen generell Geschichten, die die Auswirkungen von Politik auf die normalen Menschen zeigen. Ich finde es spannend, bildhaft zu erzählen, wie die historischen Ereignisse bei den Menschen, die um die Ecke wohnen, ankommen. Die Geschichte von "Folgeschäden" hat mich besonders fasziniert, weil sie die ganze Paranoia und die ganze Hysterie, die im Moment in Deutschland herrschen, sehr schön auf den Punkt bringt. In dieser Geschichte geht das Misstrauen so weit, dass der Zweifel sich sogar in einer sehr glücklichen Beziehung ausbreitet und eine Liebe fast vollständig zerstört.

Wurzelt die Geschichte in persönlichen Erfahrungen?

Nasr: Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit, die in Hamburg passiert ist, wo die BKA-Beamten zu einer deutschen Buchhändlerin kamen. Sie war auch mit einem Araber verheiratet. Ich muss aber sagen, dass Tariq nicht die Hauptfigur ist, sondern seine Frau, Maya. Während der Arbeit am Drehbuch haben wir immer wieder feststellen müssen, dass es eigentlich die Geschichte der deutschen Frau Maya ist und nicht umgekehrt.

Weil Sie dadurch die Identifikationsebene mit den deutschen Zuschauern erreichen wollten?

Nasr: Nachdem wir einige Zeit am Drehbuch gearbeitet hatten, wurde uns klar, dass es nicht so spannend gewesen wäre, die Geschichte aus Tariqs Perspektive zu erzählen. Dann wäre die Aussage des Filmes gewesen, dass der Mann unschuldig war, die Gesellschaft hat ihn gequält, und alle haben ihn im Stich gelassen.

In dem Moment, im dem wir die Perspektive von Maya wählen, gehen wir einen Schritt weiter. Weil wir im Prinzip zeigen, wie so ein Mechanismus entsteht und funktioniert. Das ist der Hauptgrund, warum wir sie als Hauptfigur gewählt haben. Denn die Entwicklung, die sie macht, macht auch der Zuschauer. Und das nicht nur beim Anschauen des Films, sondern vielleicht auch im Alltag, wenn er einen Nachbar hat, der sich irgendwie "komisch benimmt".

Wenn sich die Zuschauer am Ende des Films ein bisschen schämen, dass sie ihren Vorurteilen freien Lauf gelassen haben, dann würde mich das sehr freuen.

Das setzt aber ein ziemlich misstrauisches Klima in einer Gesellschaft voraus.

Nasr: So eine Atmosphäre spüre ich tagtäglich. Einmal war ich in Köln, um an der Diskussion teilzunehmen, die nach der Vorführung meines Filmes stattfinden sollte. Während der Vorführung habe ich mich in einem Cafe neben dem Kino aufgehalten. Am Nebentisch saßen zwei ältere Damen, die ich darum bat, kurz auf meine Tasche aufzupassen, als ich zur Toilette wollte.

Nachdem ich zurückkam, war die Tasche weg. Die Frauen sagten etwas kleinlaut, dass meine Tasche an der Bar sei. Dann kam die Bedienung, ganz rot im Gesicht, und sagte: 'Die Damen sind in Panik geraten, weil Sie die Tasche dagelassen haben.' Von diesem Klima rede ich. Das kann man - als Nichtdeutscher - tagtäglich erleben.

Was haben Sie am Drehbuch, das von einem Deutschen geschrieben wurde, geändert?

Nasr: In der ersten Fassung des Drehbuches war Tariq ein Pakistaner. Ich habe aber von Anfang an gesagt, dass es für mich eher eine Geschichte ist, die mit Arabern zu tun hat. Denn ich hatte das Gefühl, dass die Araber nach dem 11. September mehr im Fadenkreuz stehen als die Pakistaner.

Reza, der iranische Arzt, der sein Studium in Deutschland absolviert hat und in den Iran zurückgekehrt ist und dort ein Krankenhaus leitet, war anfänglich eine böse Figur, ein radikaler Muslim, der Tariq den "rechten Weg" zeigen wollte und ihm immer wieder sagte, dass die westliche Gesellschaft verdorben sei.

Mit diesem Klischee wollte ich aber nicht arbeiten. Aber alle Änderungen sind in gegenseitigem Einverständnis mit dem Drehbuchautor geschehen.

Sie haben tatsächlich ein differenziertes Bild von den Muslimen, Tariq und Reza, gezeichnet. War es schwierig, die deutschen Beteiligten davon zu überzeugen?

Nasr: Eigentlich nicht. Ich finde es sehr spannend, Klischees zu benutzen, um sie zu brechen. In meinem Film gibt es auch viele Klischees, mit denen wir gespielt haben. Es sind Bilder, die die Zuschauer gewöhnlich in den Nachrichten sehen: Sobald von radikalen Muslimen geredet wird, zeigt man Männer beim Freitagsgebet. In Deutschland ist es so, dass allein der Anblick, dass ein Mann betet, für Unbehagen sorgt.

Samir Nasr, geboren 1968 in Karlsruhe, besuchte in Tripolis und in Kairo eine deutsche Schule. Sein Diplom im Fach Regie / Dokumentarfilm machte er 1999 an der Filmakademie Baden-Württemberg. Nach mehreren preisgekrönten Dokumentarfilmen (u.a. Nachttanke, leben 16) drehte er 2004 den Fernsehfilm Folgeschäden, der auf einem Drehbuch von Florian Hanig basiert.Im Film gibt es eine Szene, in der Maya den Gast, Reza, beim Beten überrascht. Das ist eine Szene, die im normalen Kontext nicht problematisch wäre, aber in diesem Kontext erweckt sie den Eindruck, dass er nach dem Beten eine Bombe legen würde.

Die Medien haben jahrelang diese Klischees kultiviert. Das sind Klischees, mit denen wir auch gespielt haben, ebenfalls mit den Klischees des "Schläfers" und des Terroristen. Dass Tariq es aber am Ende nicht ist, ist zwingend.

In der Gebets-Szene ist aber die relative Nacktheit von Maya auch ungewöhnlich!

Nasr: Das zeigt, wie unsensibel Maya ist. Ihr kann man auch vieles vorwerfen. Dass sie sich z.B. in all diesen Jahren mit dieser Frage nicht beschäftigt hat. Das ist eine Beziehung, bei der das Thema Religion anfänglich keine Rolle gespielt hat. Weil Tariq eigentlich ein sehr westlicher Muslim ist. In solchen Beziehungen sagt man; "du bist Muslim, ich bin Christin, das ist aber kein Problem".

Erst nach dem 11. September haben Maya und Tariq gemerkt, dass sie in diesem Punkt doch verschieden sind. Das, was sie trennt, ist die Religion. Das konnte man nach dem 11. September in vielen Beziehungen beobachten.

Können Sie mit einem Begriff wie "Islamismus" überhaupt etwas anfangen?

Nasr: Ich finde den Begriff "Islamismus" sehr schwierig. Ich denke, dass der Islamismus eine Ausprägung ist wie all die anderen Radikalismen, die wir heute auf der ganzen Welt sehen. Wir sehen es im Judentum und im Christentum auch. In allen Ländern der Welt sehen wir im Moment eine starke Tendenz zur Radikalisierung und zur Abschottung.

Der Islamismus ist vielleicht eine Sonderform, weil er sich im Moment nach Außen sehr viel aggressiver zeigt und natürlich vom Westen viel mehr als Bedrohung wahrgenommen wird. Wir reden jetzt auch aus der westlichen Perspektive. Für die Palästinenser sind die radikalen Siedler genauso eine Bedrohung.

Ich sehe in diesem Islamismus eine Gefahr, aber es ist weniger eine Gefahr für den Westen als für die Gesellschaften, die sich rückwärts entwickeln, die sich abschotten und die sich die Möglichkeit zur Entwicklung nehmen. Das hat ganz viel mit einem Mangel an Freiheit, mit Angst und Armut zu tun.

Für mich ist dieser Islamismus eigentlich, ohne die Gewalttäter in irgendeiner Form verteidigen zu wollen, eine sehr verzweifelte Reaktion von Gesellschaften und auch von den Individuen, die sehr hoffnungslos sind, die keine Perspektive im Leben haben und in diese einzige Wahrheit flüchten. Wo Menschen so fanatisiert und radikalisiert werden, sind oft auch die Zustände, in denen sie leben, einfach nicht menschenwürdig.

Welche Auswirkungen hatten die Ereignisse vom 11. September auf Ihre cineastische Karriere?

Nasr: Keine negative! Da wird man plötzlich als Experte entdeckt und bekommt Aufträge zu diesem Thema - wie der Fall "Folgeschäden". Aber die Gefahr, dass man auf diese Rolle reduziert wird, ist auch groß. Dass man dann nur "der Onkel" zu diesen Fragen wird. Deshalb ist ja sehr wichtig, dass man versucht, sich zu verändern. Ich merke, dass man plötzlich als zugehörig zu einer anderen Kultur definiert wird. Ich verbinde aber beides in mir.

​​Ist das nicht das gleiche Phänomen, das man in der Filmszene des "Migranten-Kinos" in Deutschland beobachten kann? Legt man in diesem Kino mehr Wert auf die "Authentizität", deren Merkmale allerdings auch von Westlern definiert werden oder auf die cineastischen Aspekte?

Nasr: Migrantenkino - das ist wieder ein zu großer Sammelbegriff, mit dem ich nichts anfangen kann, weil die Filme sehr unterschiedlich sind und sich einfach unter dieser Bezeichnung nicht einordnen lassen. Wenn man den Anspruch hat, dass das Migrationkino ein Beitrag zum "friedlichen Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher Herkunft" leisten muss, wird man zu Recht oft enttäuscht.

Wahrscheinlich nehmen wir das Migrantenkino genauso falsch wahr wie oft auch das arabische oder orientalische Kino hier im Westen wahrgenommen wird. Denn diese Filme werden zunächst als ein soziologisches Statement gesehen. Man liest selten, dass die Menschen über den Film oder über die Machart und über die Ästhetik des Filmes sprechen. Ein Film ist aber in erster Linie ein Kunstwerk und kein Essay oder keine politische Botschaft.

Wurde Ihr Film in den arabischen Ländern gezeigt?

Nasr: "Folgeschäden" lief Ende November in Kairo auf dem Internationalen Filmfestival im Wettbewerbsektor. Offiziell ist aber der Film in keinem arabischen Land gezeigt wurde.

Wovon handelt Ihr nächster Film?

Nasr: Mein nächstes Projekt ist die Verfilmung eines Romans von Sonallah Ibrahim, dem großen ägyptischen Schriftsteller. Der Roman heißt Scharaf, was ein Männername ist und auch Ehre bedeutet. Das ist die Geschichte eines jungen Mannes, der aufgrund eines relativ blöden Zufalls im Gefängnis landet. Der ganze Film spielt im Gefängnis und ist eine brillante Spiegelung der ägyptischen Verhältnisse in der Gesellschaft anhand dieses Mikrokosmos, mit sehr viel schwarzem Humor geschildert. Es geht aber auch um die Folgen der Globalisierung und der weltpolitischen Lage.

Interview: Fahimeh Farsaie

© Qantara.de 2006

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