"Wir sind verantwortlich für die Krise"
Mohammad Ali Moukaled, Philosophieprofessor an der Universität Sidon im Libanon hielt in Berlin einen Vortrag über die Krise der arabischen Welt. Mit ihm sprach Youssef Hijazi.
Normalerweise wird die arabische Gemeinde in Berlin von Religionsgelehrten saudischer oder iranischer Prägung besucht. Heute sprachen Sie als Philosoph zu dieser Gemeinde über religiösen Fundamentalismus im arabisch-islamischen Raum. Inwiefern unterscheiden Sie sich?
Moukaled: Ich vermute, dass diese Gelehrten hierher kommen, um die arabische Gemeinde für bestimmte Dinge zu mobilisieren. Im Allgemeinen geht es um das Palästinaproblem, aber zurzeit auch um die amerikanische Besatzung im Irak.
Moukaled: Ich wollte dem Publikum in Berlin aufbauend auf meiner Studie der modernen arabischen Geschichte deutlich machen, dass die arabische feudale Gesellschaft, anders als die kapitalistische westliche Kultur, sich nicht zu einer modernen Gesellschaft entwickeln konnte. Hierfür trägt einerseits der Westen die Verantwortung, weil er sich nicht als Unterstützer der rückständigen Länder, sondern als Kolonisator zeigte, insbesondere in Palästina. Zum anderen konnten die politischen Kräfte innerhalb der arabischen Welt keine Strategie anbieten, um die Gesellschaft zu modernisieren. So konzentrierten sie sich auf die Feindschaft gegenüber dem Fremden, um sich die eigenen Fehler nicht einzugestehen.
Können Sie genauer auf Ihren heutigen Vortrag eingehen?
Moukaled: Meine These ist, dass die gesamte politische Denkweise im arabischen Raum fundamentalistisch ist – sei sie links orientiert, nationalistisch oder islamistisch. Jede Partei beansprucht die Wahrheit für sich allein und negiert und bekämpft alle anderen. Um dieser Krise zu entrinnen, kommen wir nicht um eine selbstkritische Betrachtung der Geschichte des Fundamentalismus herum, die bereits 200 Jahre andauert - seit der napoleonischen Invasion in Ägypten und somit seit dem ersten Kontakt zwischen der imperialistischen Kultur des Westens und der arabischen Welt.
Mag sein, dass ihre These richtig ist. Doch sämtliche von Ihnen aufgeführten politischen Strömungen sind randständig, nur der islamistische Fundamentalismus verfügt derzeit über immensen Einfluss.
Moukaled: Der Aufstieg des politischen Islam begann mit der Niederlage der Araber im israelisch-arabischen Krieg 1967 und erreichte seinen Höhepunkt im Jahre 1979 mit dem Sieg der iranischen Revolution. Hier sehen wir, dass die arabische Welt nach politischen Alternativen für ihre Befreiungsbestrebungen suchte. Die regierende nationalistische Bewegung in Ägypten, Syrien, Irak, Algerien und Libyen und die Linke im Jemen, all jene gehörten zur arabischen nationalen Befreiungsbewegung, die letztendlich versagt hat. Doch auch der politische Islam bot keine Lösung.
Wie erklären Sie sich dann den Erfolg der islamistischen Bewegung?
Moukaled: Sie proklamieren dieselben Parolen gegen Imperialismus und Kolonialismus und gegen die westliche kulturelle Fremdbestimmung wie die linken und nationalen Parteien. Die Palästina-Frage muss für alles herhalten, obwohl der politische Islam seinen Krieg anfangs in Afghanistan und Tschetschenien führte. Dabei stützt er sich auf ein kollektives Bewusstsein, das sein Potenzial aus dem kulturellen Erbe, der Tradition, den Bräuchen und der Religion schöpft. Die verschiedenen islamistischen Bewegungen bemächtigten sich der Religion über Riten und den Volksglauben und nicht durch die eigene geistige Auseinandersetzung mit der Religion.
Betrachten Sie den politischen Islam nicht als den wahren Islam?
Moukaled: Die religiösen Rechtsgelehrten halten in der Regel Distanz zur Politik. Die religiösen Grundlagen, die für die Programme des politischen Islam benutzt werden, sind falsche Interpretationen und beruhen auf Sekundärtexten und nicht auf dem Koran. Deswegen meinen die verschiedenen Gruppen etwas Unterschiedliches, wenn sie sagen, der Islam sei die Lösung. Das ist ein Affront gegenüber der Religion und der Politik.
Sind Sie der Auffassung, dass der Islam von innen heraus reformierbar ist?
Moukaled: Jeder Reformprozess benötigt authentische Elemente, die in jeder Ideologie vorhanden sind. Als Martin Luther sich gegen die Amtskirche auflehnte, stützte er sich auf die Bibel und nicht auf einen säkularen Text. Die islamische Welt kann sich auf der Grundlage des Korans erneuern. Die Idee des Laizismus wird sich in der islamischen Welt jedoch nur durch die religiösen Vertreter etablieren können. Dafür brauchen wir neue Interpreten wie es z.B. Rifaat Tahtawi, Muhammad Abdu und Taha Hussein im letzten Jahrhundert in Ägypten gewesen sind.
Doch auch sie blieben ohne Einfluss.
Moukaled: Als Individuen haben sie jedoch enorm zur theoretischen Erneuerung beigetragen. Diese spiegelten sich aber nicht in der Praxis und im allgemeinen Bewusstsein wider, d.h. sie blieben ohne Einfluss auf die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Struktur. Denn sie fanden leider keine politische Macht, die sie stützte. Da sind auch regressive Elemente, die nicht falsch sind, aber nicht zeitgemäß wie z.B. die Einrichtung der Schura oder das Rechtsverständnis. Sie bilden das Fundament, auf dem wir aufbauen können, aber kein feststehendes Gebäude.
Der politische Islam konnte keinen Ausweg aus der Krise anbieten. Es scheint also keine Alternativen im arabischen Raum zu geben?
Moukaled: Ich stimme Ihnen zu. Zurzeit gibt es keine reife Alternative, jedoch eine Reihe von individuellen Initiativen, die nicht miteinander verbunden sind – wie einzelne autarke Inseln. Aber vielleicht sind die Niederlagen ein Mobilisierungsfaktor für den Reifungsprozess.
Interview: Youssef Hijazi
© Qantara.de 2003
Aus dem Arabischen von Youssef Hijazi und Simone Britz
Dr. Mohammad Ali Moukaled, geboren 1948 im Südlibanon, promovierte an der Sorbonne in Paris und lehrt heute Philosophie an der libanesischen Universität in Sidon. Er ist Verfasser mehrerer Werke zu den Themen Kulturtheorie und Fundamentalismus.