Mit zweierlei Maß
Religion ist in Deutschland keine Privatangelegenheit. Auf allen Regierungsebenen werden Religionsgemeinschaften als öffentliche Einrichtungen anerkannt und die Menschen ermutigt, ihnen beizutreten. Die Deutschen lassen sich als Katholiken, Protestanten oder Juden staatlich registrieren und zahlen eine "Kirchensteuer", die an die jeweilige Einrichtung weitergeleitet wird. Außerdem haben religiöse Gruppen die Möglichkeit, an öffentlichen Schulen Religionsunterricht zu erteilen: Dass ein Pastor, Priester oder Laienanhänger einer Religionsgemeinschaft zum Lehrkörper einer weiterführenden Schule gehört, ist nicht ungewöhnlich.
Um diesen privilegierten Status zu erlangen, müssen religiöse Gemeinschaften über ein klar definiertes Glaubenssystem verfügen, sie müssen historisch und sozial bedeutsam sein, und ihre Mitglieder registriert sein. Die Religionsgemeinschaften der Katholiken, Protestanten und Juden – und in Berlin auch die Zeugen Jehovas und die Mormonen – sind als öffentliche Einrichtungen organisiert.
Man sollte annehmen, dass der Islam mit 4,3 Millionen Anhängern in Deutschland diese Kriterien leicht erfüllen könnte. Aber bislang hat die deutsche Regierung diese Religionsgemeinschaft außen vor gelassen.
Der Grund dafür ist sowohl einfacher als auch komplexer Natur: Die muslimischen Gemeinschaften sind in ethnischer und konfessioneller Hinsicht gespalten – in Sunniten, Schiiten und Alawiten. Oft vertreten diese Gruppen sehr unterschiedliche Ansichten, also scheitern sie am wichtigsten staatlichen Kriterium: Sie bilden keine einheitliche religiöse Gruppe mit gemeinsamen Zielen und Glaubensvorstellungen.
Religionsrecht statt Staatskirchenrecht
Diese Anforderungen, die eine Religion erfüllen muss, um in Deutschland einen privilegierten Status zu bekommen, verdeutlichen das anachronistische Verhältnis der säkularen Bundesrepublik zum Glauben. Die Idee, der Staat könne mit religiösen Gruppen auf die gleiche Weise zusammenarbeiten wie beispielsweise mit den Gewerkschaften, setzt innerhalb dieser Gruppen eine gewisse Einheit und Hierarchie voraus. Aber der Islam funktioniert nicht so. Die Kriterien, die für die streng strukturierten christlichen Kirchen aufgestellt wurden, die Europa geprägt haben und von Bischöfen und Taufregistern bestimmt sind, treffen auf den Islam einfach nicht zu.
Und Deutschland ist christlicher, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Christliche Feste wie Ostern, Himmelfahrt, Reformationstag und Fronleichnam sind offizielle Feiertage, doch die wichtigen heiligen Tage des Judentums und des Islams sind es nicht. In den deutschen Städten und Dörfern ertönen die Kirchenglocken, und im staatlichen Radio und Fernsehen werden die Programme der christlichen Kirchenvertreter ausgestrahlt. Der Name des entsprechenden Gesetzes sagt bereits alles: "Staatskirchenrecht".
Bereits seit einiger Zeit gibt es Forderungen, das Gesetz in "Religionsrecht" umzubenennen und weitere Religionen darin aufzunehmen. Während sich auf nationaler Ebene kaum etwas verändert hat, gab es in den Bundesländern, wo die meisten der Religionsgesetze des Landes verabschiedet werden, Fortschritte. Obwohl im konservativen, katholischen Bayern Fremdenfeindlichkeit und Flüchtlingsangst verbreitet sind, gibt es dort die ältesten Moscheen Deutschlands, und an den Schulen findet ein Pilotprogramm für Islamunterricht statt. Vielleicht sind die Bayern genau deshalb, weil sie ihre eigenen religiösen und kulturellen Traditionen so vehement verteidigen, auch am ehesten bereit, andere Traditionen anzuerkennen und zu unterstützen.
[embed:render:embedded:node:14445]"Der Islam gehört zu Deutschland"
Aber nicht nur in Bayern gibt es Reformen. Im überwiegend protestantischen Norden hat der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff an den Universitäten Münster und Osnabrück Trainingskurse für zukünftige Imame und islamische Religionslehrer eingerichtet. Als er später deutscher Bundespräsident war, sagte er: "Der Islam gehört zu Deutschland".
Obwohl Wulff, bevor er 2012 der Korruption beschuldigt (und freigesprochen) wurde, nur zwei Jahre Bundespräsident war, hat sein Einsatz für den Islam eine Debatte ausgelöst, die in Deutschland bis heute geführt wird. Kritiker einer islamischen Religionsausbildung in Schulen, darunter viele Muslime, behaupten, im Land gäbe es keine Gruppe, die für alle Muslime sprechen könnte. Und tatsächlich wird geschätzt, dass der Zentralrat der Muslime und der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland, die zwei Gruppen, die für eine Vertretung des Islam in Deutschland noch am besten geeignet scheinen, nicht mehr als 20 Prozent der deutschen Muslime repräsentieren.
Deutschland ist ein säkulares Land, aber die deutschen Gesetze behandeln die institutionalisierten Religionen nicht unparteiisch. Es wird erwartet, dass sich die Religionen an staatlichen Standards ausrichten, und diese Standards orientieren sich wiederum an den Strukturen der christlichen Religion.
Dies führt dazu, dass viele Nichtchristen, insbesondere Muslime, das Verhältnis des Staates zu religiösen Gruppen nicht mehr für legitim halten – eine gefährliche Entwicklung in einer Zeit, in der eine schnelle Integration nötig ist, um den sozialen Frieden zu bewahren. Angesichts einer wachsenden muslimischen Gemeinde und immer mehr Bürgern, die gar keiner Religion angehören, muss Deutschland diese Ordnung, die vor vielen Generationen entstanden ist, wohl ändern.
Alexander Görlach
© Qantara.de 2016
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der New York Times am 15. Dezember 2016.
Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff