Selbstermächtigte Dschihadisten

Hat der Islam ein Gewaltproblem? Mit ihrem Terror im Namen des Islam haben die Dschihadisten eine ganze Weltreligion in eine Legitimationskrise gestürzt. Dabei kannte die islamische Gelehrsamkeit durchaus Mechanismen, um Gewalt zu begrenzen. Doch im Zeitalter der Globalisierung funktionieren sie nicht mehr. Von Claudia Mende

Von Claudia Mende

Bei den Anschlägen von Paris und Brüssel haben Terroristen im Namen des Islam wahllos Unschuldige getötet. Ihre barbarischen Taten bringen eine ganze Weltreligion in Misskredit. Die Dschihadisten berufen sich auf den Islam und rechtfertigen ihre Morde mit Verweis auf den Koran. Für die friedliche Mehrheit von 98 Prozent der rund 1,6 Milliarden Muslime ist das verheerend, weil ihre Religion so in den Generalverdacht geraten ist, ein Gewaltproblem zu haben.

Islamkritiker und große Teile der westlichen Öffentlichkeit bescheinigen dem Islam einen prinzipiell kriegerischen Charakter. Dabei verweisen sie unter anderem auf Textstellen im Koran wie Suren 2,191 oder 4,89, die dazu aufrufen, Ungläubige zu töten.

Ganz so einfach ist es aber nicht. Unter Theologen gilt als unstrittig, dass der Islam in seinem Lehrfundament nicht mehr an Gewaltverherrlichung oder Gewaltlegitimierung enthält als die Bibel.

Angemessener Umgang mit historischen Texten

"Gewaltlegitimierende Aussagen im Koran sind nicht singulär", sagt Thomas Volk, Islamwissenschaftler bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. "Judentum und Christentum kennen solche Passagen ebenfalls." Die Schriften aller drei monotheistischen Religionen enthalten Textstellen, die für den modernen Leser verstörend sind, weil sie entweder Gewalt verherrlichen, Überlegenheitsansprüche gegenüber Andersgläubigen beinhalten oder frauenfeindlich sind. Für Thomas Volk ist der Umgang mit den Texten entscheidend.

Der Verweis auf die problematischen Verse im Koran allein kann auch nicht erklären, warum sich junge Männer im Gewaltrausch, egal ob in Syrien, im Irak oder in Brüssel, auf den Islam berufen. Denn jene gewaltlegitimierenden Verse, die seit 1.400 Jahren im Koran oder in der Sunna stehen, haben in der Vergangenheit nicht zu einem Terrorismus à la "Daesh" geführt. Warum dann heute?

Mann liest im Koran; Foto: AFP/Getty Images
Unter Verdacht: Islamkritiker und große Teile der westlichen Öffentlichkeit bescheinigen dem Islam einen prinzipiell kriegerischen Charakter. Dabei verweisen sie unter anderem auf Textstellen im Koran wie Suren 2,191 oder 4,89, die dazu aufrufen, Ungläubige zu töten.

Bekim Agai, Professor für Kultur und Gesellschaft des Islam an der Goethe-Universität in Frankfurt, betont, dass der Koran unter völlig anderen historischen Bedingungen als heute entstanden ist. Damals war "Krieg, nicht Frieden zwischen den Stämmen, Völkern und Reichen der Normalmodus." Religion hat alle Lebensbereiche durchdrungen, so dass "Staat, Gesellschaft, Krieg und Frieden damals religiös begründet werden mussten."

Anweisungen für Krieg wie Frieden

Der Koran gebe Anweisungen für Krieg wie Frieden. Und es war an den Gelehrten, die Anweisungen für die jeweilige Situation zu deuten. Allerdings sei damals klar gewesen, dass der Staat und nicht die einzelnen Muslime über legitime und illegitime Gewaltausübung zu entscheiden hatte. "Von Anfang an hatten Muslime sehr negative Erfahrungen damit gemacht, dass Individuen selbst über Gewalt entschieden."

Wie die oft widersprüchlichen Aussagen des Koran zu Friedfertigkeit und Gewalt zu verstehen sind, darüber gibt es eine lange Tradition der Debatte, die ganze Bibliotheken füllt. "Die islamische Tradition hat sehr früh angefangen, zwischen historischen Umständen der Texte und der gesellschaftlichen Gegenwart zu differenzieren", sagt Bekim Agai. Ziel war es, "den Texten eine Bedeutung im Jetzt zu geben, um zwischen legitimer und illegitimer Gewalt zu unterscheiden. Willkürliche Zitate ohne Entstehungskontexte sind dieser Tradition fremd".  

Auf diese Weise konnten lange Zeit widersprüchliche Aussagen so ausbalanciert werden, dass man sie meist nicht als Ermächtigung für eigenmächtiges, gewalttätiges Handeln missverstehen konnte.

Heute sind die politischen und kulturellen Voraussetzungen völlig andere. Im Zeitalter der Moderne und der Globalisierung werden problematische Textstellen von Extremisten aus ihrem Kontext gerissen. Die Einbettung in eine Tradition islamischer Gelehrsamkeit ist in der arabischen Welt weitgehend verloren gegangen. Dschihadistische Attentäter sind davon völlig entkoppelt. Bei ihnen handelt es sich meistens um religiöse Analphabeten, sie morden nicht nach jahrelangem Koranstudium.

Sunnitische Gelehrte auf einer Konferenz der Azhar in Kairo; Foto: AFP/Getty Images/K.Desouki
Ohnmacht der Gelehrten: Die hochrangigen Repräsentanten des sunnitischen Islam wie an der Al-Azhar in Kairo distanzieren sich zwar vom Terror, aber sie haben weder die moralische Kraft noch die ausreichende Kompetenz für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit politisierter Religion. Moralisch haben sie sich disqualifiziert, weil sie kein Wort über das Versagen der politischen Klasse in ihren Ländern verlieren.

Archaisch inszenierte Gewalt

Ihre Gewalt inszenieren sie zwar als archaisch, aber das Phänomen des islamistischen Terrorismus ist ein modernes. Wenn sich "selbsternannte und selbstautorisierte Dschihadisten" auf den Koran berufen, dann ist das für den Frankfurter Islamwissenschaftler "eine Form der Selbstaneignung der Texte, über die sonst Gelehrte und Staaten gewacht haben".

Hinzu kommt, dass unter dem Eindruck gewaltiger Spannungen in der arabischen Welt zwischen Syrien und Ägypten, von Jemen bis nach Marokko eine Politisierung von Religion stattgefunden hat. Das Establishment der sunnitischen Gelehrten hat dem nichts Substantielles entgegenzusetzen.

Die hochrangigen Repräsentanten des sunnitischen Islam wie an der Al-Azhar in Kairo distanzieren sich zwar vom Terror, aber sie haben weder die moralische Kraft noch die ausreichende Kompetenz für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit politisierter Religion. Moralisch haben sie sich disqualifiziert, weil sie kein Wort über das Versagen der politischen Klasse in ihren Ländern verlieren. Theologisch "grenzen die Gelehrten des sunnitischen Islam ihre Religion nicht konsequent genug gegen den Missbrauch durch Extremisten ab", meint Thomas Volk. "Nur ein kritischer Umgang mit der eigenen Texttradition könnte daran ernsthaft etwas ändern. Wer das aber wagt, wird schnell als Ketzer verschrien." Für Volk ist das ein Riesenproblem.

Denn es reicht nicht aus, problematische Textpassagen aus dem Selbstverständnis auszublenden – so wie es die meisten Muslime tun, für die der Glaube eine Anleitung zur friedlichen und konstruktiven Lebensgestaltung darstellt. "Muslime sollten sich kritisch mit ihren heiligen Schriften auseinandersetzen", meint der Islamwissenschaftler von der Adenauer-Stiftung, "und hermeneutisch mit den vermeintlich unhinterfragbaren Texten arbeiten".

In der arabischen Welt fehlen dafür aber momentan die notwendigen geistigen Freiräume. Doch auch in der europäischen Diaspora "ist eine historisch-kritische Lesart des Koran noch nicht selbstverständlich." Nur eine theologische Auseinandersetzung gerade mit verstörenden Passagen im Koran kann dazu beitragen, konsequent alle Lesarten zu marginalisieren, die in einen radikalen Islam führen.

Claudia Mende

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