Geiseln einer Tyrannei der Mehrheit
In den letzten Jahren wurden wir Zeuge einer globalen Wiederauferstehung der Religionen. Diese Rückkehr kam plötzlich, keiner hatte damit rechnen können. Im April 1966 brachte das Time Magazin die Titelgeschichte "Is God Dead?" heraus. Zu Beginn dieses Millenniums schrieb The Economist ganz selbstbewusst einen Nachruf auf Gott.
Doch die Geschehnisse des 11. Septembers haben alles verändert. Wir sind Zeugen eines epochalen Wandels. Es ist eine Zeit, in der die Religion im Leben der Menschen eine immer wichtigere Rolle spielt. Religion strikes back!
Blicken wir beispielsweise nach Nigeria: Das Land ist gespalten in den islamischen Norden und den christlich geprägten Süden. In Südkorea und Brasilien dagegen findet die Pfingstkirche immer schnelleren Zuwachs. Das ehemalige Jugoslawien ist zersplittert in die muslimisch geprägten Länder Bosnien und Kosovo sowie das orthodoxe Serbien und katholische Kroatien. In der säkularen Türkei ist momentan die konservativ-islamische Partei AKP an der Macht. In Thailand fordern Mönche die Regierung auf, den Buddhismus als offizielle Staatsreligion einzusetzen.
Islamisierungstendenzen in der indonesischen Gesellschaft
Auch Indonesien ist nicht frei vom Einfluss der Renaissance der Religionen. Ein Phänomen, dessen Spuren sogar bis in die Kolonialzeit zurückreichen. Wie der Historiker Harry Benda erwähnt, ist "die Moderne Geschichte Indonesiens die Geschichte der Ausbreitung der Gruppe der streng gläubigen Moslems".
Eine quantitative Studie, die im Jahr 2002 von Saiful Mujani durchgeführt wurde, bestätigt dies. Er fand heraus, dass die indonesische Gesellschaft zunehmend religiöser wird. 97,2 Prozent der Indonesier bekennen sich zum Glauben an Gott. Die 88 Prozent indonesische Muslime geben an, ihren religiösen Pflichten zum Gebet regelmäßig nachzukommen.
James Madison schrieb in den Federalist Papers, dass die Gefahr der Unterdrückung in einer Demokratie von der Mehrheit ausgehe. Auch Alexis de Tocqueville warnte vor der Gefahr mit dem Begriff von der "Tyrannei der Mehrheit". Richard Dawkins formulierte " Ein Aufklärungsprojekt: Die Wahrheit, der gesunde Menschenverstand und die Wissenschaft sind derzeit bedroht vom Angriff der organisierten Ignoranz, die sich Religion nennt."
Religiöse Rückkopplungen in den Medien
Stellen wir dies in den Kontext der Medien. Journalisten sind Teil der Gesellschaft. Auch sie sind nicht frei vom Einfluss des Wiederaufkommens der Religionen. Die Medien sind ein Spiegel der Gesellschaft, und der Redaktionsraum stellt eine Art "Miniatur-Indonesien" dar. Wenn in einer Gesellschaft die konservativen religiösen Ansichten dominieren, werden sich diese folglich auch in den Medien manifestieren.
Als Journalist und Gründer der indonesischen "Vereinigung der Journalisten für Vielfalt" (SEJUK) will ich in diesem Zusammenhang einige Beispiele dafür anfügen, woran sich diese Islamisierungstendenzen ablesen lassen.
Als es vor drei Jahren zu tragischen Ausschreitungen am indonesischen Nationalmonument, der sogenannten Monas-Tragödie, gekommen war, kehrte eine Journalistin in die Redaktion zurück und zeigte ein Foto herum, auf dem sie selbst zusammen mit Munarman, dem Kommandanten des Kommandos Laskar Islam (Islamkrieger), zu sehen war.
Munarman befand sich zu jenem Zeitpunkt jedoch in Polizeigewahrsam, aufgrund gewalttätiger Übergriffe seines Kommandos auf Mitglieder der Nationalen Allianz für Glaubens- und Religionsfreiheit (AKKBB). Diese Journalistin sagte mit Stolz, Munarwan sei ein Held des Islams.
Ringen mit der eigenen Überzeugung
Ein anderer Journalist verglich die Front Pembela Islam (Islamische Verteidigungsfront) mit der AKKBB. Er sagte "Immerhin sind sie noch Muslime und sie beten so, wie der Islam es vorschreibt. Bei der AKKBB weiß man überhaupt nicht wofür sie stehen."
Im Fall der Vertreibung der Anhänger der Ahmadiyyah-Gruppe in Manis Lor, Kuningan, vor ein paar Jahren, kommentierte ein Journalist: "Zu dieser Tat wäre es nicht gekommen, wenn die Ahmadiyyah eine eigene Religion gegründet hätte
n." Mit anderen Worten: Die Ahmadiyya sind selbst schuld, wenn sie als Anhänger eines falschen islamischen Glaubens bekämpft werden.
Ein weiteres Beispiel: Bei der Beerdigung des Terroristen Dr. Azhari war in verschiedenen Medien zu lesen, dass der Leichnam Dr. Azharis einen Duft verströmt habe. Andere Journalisten berichteten, dass eine weiße Taube über ihm geflogen sei, als man ihn zu Grabe trug. Diese Art der Berichterstattung gibt vollkommen unkritisch die Sichtweise von Dschihadisten wieder, die davon überzeugt sind, dass von denjenigen, die den Märtyrertod sterben, ein Duft ausgeht und Tauben über ihnen aufsteigen.
Ich glaube, dass es für einen Journalisten in Zeiten wiederkehrender Religiosität nicht leicht ist, in aller Deutlichkeit kritisch Position zu beziehen. Auf persönlicher Ebene muss er mit der eigenen Überzeugung als Teil der Gemeinde ringen. Auf der anderen Seite darf er auch nicht die Konfrontation mit seinen Lesern bzw. seinem Publikum scheuen: Gegen den Strom zu schwimmen bedeutet sich der Mehrheit entgegen zu stellen – auf die Gefahr hin, die Gefühle der Gemeinde zu verletzen.
Die Rolle der Frau
Im Kontext der Wiedererwachens der Religionen in den indonesischen Medien müssen auch die Frauen eine deutliche Herabstufung in Kauf nehmen: In den letzten Jahren wird von ihnen zunehmend eine Haltung der Untertänigkeit und Keuschheit gefordert. Gleichzeitig werden an ihnen begangene Sexualdelikte bagatellisiert oder sogar implizit gerechtfertigt.
Auch in Berichten über kriminelle Taten vernachlässigen die Massenmedien sehr oft die Perspektive der Frauen und Opfer. In einer Nachrichtenquelle heißt es: "Die süße Frau mit dem wohlgeformten Körper gibt zu, im Trans Jakarta Bus schon einmal sexuell belästigt worden zu sein." Durch die detaillierte Beschreibung des Frauenkörpers erhält es den Anschein, als wolle der Journalist zeigen, dass die Frau selbst Auslöser der "Verführung" gewesen sei.
Anstatt ihre Rolle als kritische Kommentatoren wahrzunehmen, dienen sich die Medien meiner Meinung nach zunehmend den islamisch geprägten Mainstream-Ideologien an – eine äußerst bedenkliche Entwicklung.
In den letzten zehn Jahren konnten wir in Indonesien zwar noch die Früchte der Freiheit genießen, doch hat sich die öffentliche Meinung in jüngster Zeit zunehmend konservativ gewandelt. Unsere Demokratie ist mehr und mehr in einer unfreien Gesellschaft gefangen. Es liegt nicht zuletzt an den Medien, diesen Trend wieder umzukehren.
Andy Budiman
© Qantara.de 2011
Übersetzung aus dem Indonesischen von Birgit Lattenkamp
Andy Budiman ist Verwalter der Allianz Unabhängiger Journalisten (AJI) und Gründer der Vereinigung der Journalisten für Vielfalt (SEJUK).
Redaktion: Arian Fariborz & Lewis Gropp