Dschihad und islamisches Paradies
Man hatte den Ort mit Bedacht gewählt. Wegen des hellen Morgens. Die Vögel in dem ausladenden Feigenbaum da draußen würden uns aus den Träumen zwitschern.
Im Schatten seiner Blätter würde man den Kaffee schlürfen. Das Weiß der Wände, das Blau des Himmels und das Grün der Blätter würden kontrastreich unter der aufsteigenden Sonne leuchten. Vielleicht käme man auf den Gedanken, dies könnte das Paradies sein. Jedenfalls hätte man die Gewissheit, dass die Hölle ganz weit weg ist.
Doch zu früh gefreut. Menschen rücken Stühle über das Hofpflaster. Die laute Stimme eines älteren Mannes dirigiert die von drei jüngeren. Von Vogelgesang kann keine Rede sein. Etwas anderes reisst einen aus den Träumen. "Die meisten Gläubigen sind nur mit den vier Kalifen vertraut," sagt die ältere Stimme in deutlichem Arabisch ohne jede Beiläufigkeit. "In diesem gesegneten Monat Ramadan möchte ich Euch deshalb von anderen Gefolgsleuten des Propheten Muhammad berichten, die nicht so bekannt sind. In unserer heutigen Lesung wollen wir uns dem Gefährten Sa'id ibn Zaid widmen."
Religiöse Läuterung im TV-Format
Ohne dass Fantasie oder gar eine Tasse Kaffee nötig wären, begreift man das Bühnenbild. Ein fromm klingender und wahrscheinlich auch fromm aussehender alter Mann wendet sich – eingerahmt in der dörflichen Idylle – an ein Fernsehpublikum. Das Programm wird vorher aufgezeichnet. Man kennt solche Sendungen vom letzten und vorletzten Ramadan.
Dieses Mal also Sa'id ibn Zaid. Das Publikum erfährt einleitend, dass es sich bei ihm auf keinen Fall um ein religiöses Vorbild ohne Charisma handelt. "Sa'id ibn Zaid war von hoher Gestalt, der Teint seines Gesichts neigte ins Dunkle, er hatte hohe moralische Maßstäbe und war von eleganter Frömmigkeit."
So war die "Persönlichkeit" von Sa'id ibn Zaid, wie sie uns "die Historiker" überliefert haben. Und jetzt zu seinen Taten: Er gehörte zu den "Ersten, die das Paradies verkündet haben." Und er hat "die Pflicht der Muslime zum Dschihad" betont, an dem er sich mit Eifer beteiligte. Er hatte ein Anliegen: "Die Gläubigen sollen nicht ruhen, bis der Islam in jedem Winkel der Erde Verbreitung gefunden hat" (nashr al-islam fi kulli rubu' al-ardh).
Die Pflicht zum Dschihad also. Etwas schläfrig tritt man in den Hof. Drei Schritte führen hinter dem Stuhl des Vortragenden entlang und mitten durch das Kamerabild. Die Aufzeichnung wird kurz unterbrochen. Nach einer Schrecksekunde geht es weiter. Die vortragende Hauptperson trägt Anzug, Krawatte, Bart und Brille.
Dschihad und islamisches Paradies
Das Kamerateam ist hipp. Die drei Jungs tragen enge Jeans, die an den Hüften enden. Die Ausrüstung ist nagelneu und vom Feinsten. Zwei Kameras, die in HD-Qualität drehen. Die Lesung wird aus zwei Perspektiven aufgenommen. Drei Lampen setzen die vortragende Hauptperson ins Licht. Dieser Aspekt der Inszenierung soll nicht allein der aufsteigenden Sonne überlassen werden.
Am Ende der Lesung ruft der Vortragende quer über den Hof. Die Tonlage springt vom Frömmelnden ins Anordnende: "Mein Mädchen, bring' mir ein Glas kaltes Wasser." Während sich die durch ihre Kleidung als fromm ausgewiesene Hotelbedienstete sputet, ergreift man die Gelegenheit, der jungen Fernsehtruppe ein paar Fragen zu stellen.
"Wir sind vom Kanal 'Al-Qalam' (die Schreibfeder). Das ist ein privater Sender", sagt der Kameramann und sieht sich in der Pflicht, noch etwas zu erläutern: "Der Sender ist etwas religiös. Und wir haben noch nicht so viel Erfahrung mit der Arbeit. Wir senden seit dem 1. Januar 2013." – "Und von wem werdet Ihr finanziert?" – "Von Geschäftsleuten."
Zu der Nachfrage, ob die Geschäftsleute Tunesier oder Bürger der Golfstaaten seien, kommt es nicht mehr. Denn der Vortragende funkt dazwischen: "Ich hoffe, wir haben Sie nicht gestört." – "Ach was, im Gegenteil. Die Verkündung der Wahrheit kann nicht stören. Haben Sie diesen Drehort gewählt, weil er an das Paradies erinnert? Weil die Zuschauer sich das Paradies so vorstellen?" – "Nein, Gott bewahre. Niemand weiß, wie das Paradies aussieht."
Später wird man einige Erkundigungen einziehen. Das kleine Hotel in Sidi Bou Said nördlich von Tunis gehörte bis zur Revolution der weitläufigen Verwandtschaft des Präsidenten Ben Ali. Nach dessen Sturz und Flucht im Januar 2011 wurde das Hotel, wie viele andere Besitztümer der Despotenfamilie, beschlagnahmt. Es soll, so will es das revolutionäre Prinzip, in den Besitz des Volkes übergehen.
Derweil wird das Hotel von einer Treuhand verwaltet, die der regierenden Ennahdha nahesteht. Das Fernsehteam von "Al-Qalam" darf sich hier ungehemmt und ohne Bezahlung breitmachen, um eine Vortragsreihe für den Fastenmonat Ramadan aufzuzeichnen. Niemand muss befürchten, dass andere Gäste gestört oder gar vertrieben werden. Denn andere Gäste gibt es kaum.
Ausländische Touristen haben Tunesien inzwischen massenhaft den Rücken gekehrt. Viele Strandhotels stehen leer oder haben gar geschlossen. Und in Sidi Bou Said, dem weißen Dorf über dem Golf von Tunis, werden Dschihad und islamisches Paradies verkündet.
"Wir brauchen eine zweite Revolution"
Der tunesische Kulturkampf zwischen Religiösen und Säkularen, so der Eindruck, bindet alle Kräfte und verschärft die Wirtschaftskrise. "Wir brauchen eine zweite Revolution," meint der Journalist Fahim Bou Kaddous, der im Moment der ersten Revolution als Kritiker Ben Alis im Gefängnis saß, nach dessen Sturz frei kam und jetzt die islamistische Ennahda zum Gegner hat.
Aber was wird passieren? Wird die Ennahda bei den Ende des Jahres geplanten Wahlen demokratisch bestätigt oder abgelöst werden. Taumelt das Pionierland der Arabellion weiter ins Chaos? Beunruhigende Nachrichten kommen vom höchsten Bergmassiv, dem Sha'anbi, und den umliegenden Wäldern im Westen Tunesiens.
Dort sollen sich Dschihadisten verschanzt haben und sich mit den Sicherheitskräften Gefechte liefern. Seit Mai werden regelmäßig Tote aus dem Sha'anbi gemeldet. Aus Nordmali sollen dorthin Kämpfer eingesickert sein.
Gewehre und Granatwerfer sollen aus den geplünderten Arsenalen Gaddafis ihren Weg nach Tunesien gefunden haben. Vor wenigen Wochen flog in einem Armenviertel von Tunis ein gestohlener Lastwagen auf. Er war voll beladen mit Waffen, die weder der Polizei noch der Armee gehörten.
Im Ramadan wird das tunesische Fernsehpublikum nun erst einmal längliche Vorträge darüber hören, dass die religiösen Vorbilder aus der Zeit des Propheten die Sache mit dem Dschihad sehr ernst nahmen und dass sie den Glauben an das Paradies für maßgeblich hielten.
Welchen Unterschied wird das machen? Der Privatsender "Al-Qalam" sagt jedenfalls, er wolle das Niveau des Mediums Fernsehen im postrevolutionären Tunesien anheben und das religiöse und nationale Selbstbewusstsein der Tunesier stärken.
Am nächsten Morgen wacht man in Sidi Bou Said mit einer Lesung über Anas bin Malik auf, einen anderen Gefolgsmann des Propheten. Auch er soll den Tunesiern nun ein bisschen bekannter gemacht werden. Auf Anas bin Malik geht eine Scharia-Rechtsschule zurück, die – historisch betrachtet – in Nordafrika stark verwurzelt ist. Schließlich ringt Tunesien immer noch um seine neue Verfassung.
Stefan Buchen
© Qantara.de 2013
Stefan Buchen arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin Panorama.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de