Wider das Feinbild im Unterricht

Der israelische Psychologe Dan Bar-On und der palästinensische Erziehungswissenschaftler Sami Adwan haben ein ungewöhnliches Geschichtsbuch konzipiert.

Von Joseph Croitoru

Feindbilder sind bekanntlich die geistige Munition eines jeden Krieges. Auch wenn sie abzubauen unvergleichlich schwieriger ist, als sie aufzubauen, arbeiten der israelische Psychologe Dan Bar-On und der palästinensische Erziehungswissenschaftler Sami Adwan seit mehreren Jahren unbeirrbar auf dieses Ziel hin.

Bar-On hatte zuvor, noch in den achtziger Jahren, Bahnbrechendes geleistet: Er brachte Kinder von Holocaust-Opfern mit denen von Nazi-Tätern zusammen, um, wie er sagt, mit den unrealistischen Vorstellungen über die jeweils andere Seite aufzuräumen.

Dass sein späteres Interesse am palästinensischen Schicksal von Flucht und Vertreibung Bar-On mit dem Palästinenser Sami Adwan zusammenbrachte, war kein Zufall: Der Pädagoge Adwan erforscht seit Jahren das Israelbild im palästinensischen Erziehungssystem.

Dialog zwischen Israelis und Palästinensern

Als Mitte der neunziger Jahre der israelisch-palästinensische Friedensprozess ins Stocken geraten war, gründeten die beiden Wissenschaftler 1998 im palästinensischen Beit Jala mit Hilfe der Frankfurter „Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung“ das „Institut für Friedensforschung im Nahen Osten“ mit dem Ziel, einen ständigen Dialog zwischen Israelis und Palästinensern zu etablieren.

Im Rahmen dieser Initiative haben Bar-On und Adwan als Projektleiter gemeinsam mit israelischen und palästinensischen Schullehrern und Historikern ein Geschichtsbuch für den Schulunterricht entwickelt.

Das besondere daran: Die herrschenden Geschichtsbilder auf israelischer und palästinensischer Seite zum Völkerkonflikt werden in diesem Arbeitsbuch miteinander konfrontiert – ein beispielloser Ansatz innerhalb der israelischen wie palästinensischen Schulerziehung.

Die Ausarbeitung dieses Unterrichtsbuches hat mehrere Jahre gedauert, der Inhalt stützt sich auf erste Erfahrungen, die mit dem Unterrichtsstoff, der in ausgewählten israelischen und palästinensischen Schulen probeweise zum Einsatz kam, gemacht wurden.

Divergierendes Geschichtsverständnis

Die Geschichtsbilder auf beiden Seiten könnten kaum unterschiedlicher sein. Das betrifft schon die Grundfrage, wie weit zurück in der Geschichte der Beginn des Konflikts zwischen den beiden Völkern anzusiedeln ist.

Für die Israelis ist diese Frage aufs engste mit der Entwicklung der zionistischen Bewegung verbunden, die sich erst Ende des 19. Jahrhunderts formierte.

Für die Palästinenser hingegen, die sich als Opfer der zionistischen Siedlungsbewegung sehen, liegen dessen Wurzeln bereits bei Napoleon: Er hatte schon 1799 einen Plan zur Besiedlung Palästinas durch europäische Juden vorgelegt.

Was also auf palästinensischer Seite als der eigentliche Beginn des folgenreichen Bündnisses der Juden mit dem europäischen Imperialismus gilt, taucht in der israelischen Geschichtsversion überhaupt nicht auf.

Historische Meilensteine aus unterschiedlicher Perspektive

So könnte die jeweilige Behandlung der Balfour-Deklaration von 1917, mit der die Briten der jüdischen Gemeinde in Palästina eine so genannte nationale Heimstätte versprachen, auf jüdischer und palästinensischer Seite unterschiedlicher nicht sein.

Die Israelis betrachten die Balfour-Deklaration fast als Selbstverständlichkeit, da sie der in Europa entstandenen zionistischen Bewegung das gab, was ihr als ganz normale Nationalbewegung europäischen Ursprungs selbstredend zuzustehen schien – ein Territorium.

Für die Palästinenser aber ist diese Geste der Engländer eine direkte Fortsetzung des europäischen Kolonialismus, der aus arabischer Sicht schon 1916 mit dem berüchtigten Sykes-Picot-Abkommen die Araber ihrer angestrebten nationalen Unabhängigkeit beraubte.

Das Jahr 1917, so ist in dem Unterrichtsbuch in der palästinensischen Version zu lesen, war das erste in einer verhängnisvollen Kette von Daten wie 1948, 1967 und 2002, die den Palästinensern Tod, Zerstörung und Entwurzelung brachten.

Aus israelischer Sicht sind dies aber Jahreszahlen, die eindeutig mit arabischer Aggression assoziiert werden. Dass jede Seite der anderen vorwirft, sie habe als erste zu den Waffen gegriffen, wird in diesem gemeinsamen Unterrichtswerk keineswegs verhehlt – schließlich sollen den Schülern hier nicht nur Argumente und Gegenargumente auseinandergesetzt werden.

Differenzierte Auseinandersetzung

Sie erfahren auch, dass sich beide Seiten ähnlicher Formen der Indoktrinierung bedienen. So wird hier anschaulich dargelegt, wie schon in den Anfängen der blutigen Auseinandersetzung zwischen Arabern und Juden in Palästina sich jede Seite ihre Helden und Märtyrer geschaffen hat, die seitdem Generationen von Schulkindern als Vorbild patriotischer Selbstaufopferung präsentiert werden.

Das Unterrichtsbuch von Dan Bar-On und Sami Adwan macht auch die Relativität des Begriffs Terror deutlich: Als Opfer von Terrorismus fühlt sich nämlich jede der beiden Konfliktparteien, lehnt aber gleichzeitig jegliche Verantwortung ab. Dieses ungewöhnliche Projekt eines interkulturellen Geschichtsunterrichts soll in nächster Zeit in seine entscheidende Phase treten.

Der Kreis der Lehrer, die mit Hilfe dieses Geschichtsbuches bislang außerhalb des Curriculums unterrichtet haben, soll sukzessive erweitert, das Unterrichtswerk nun auch im regulären Geschichtsunterricht eingesetzt werden.

Dass es in Zeiten wachsender Feindseligkeit zwischen Israelis und Palästinensern überhaupt entstehen konnte, gibt berechtigten Anlass zur Hoffung: Schon allein sein Zustandekommen ist ein großer Erfolg.

Joseph Croitoru

© Joseph Croitoru 2005

Qantara.de

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Instituts für Friedensforschung im Nahen Osten (engl.)