Beinahe Normalität
„Naja, ich laufe nicht gerade mit einer Kippa auf der Straße herum, sondern eher mit einer Baseballkappe, aber das ist ja in der Metro in Paris nicht anders”, lacht Moché. Das sei aber auch das einzige Zugeständnis, das er mache. Der 25-jährige Finanzwissenschaftler ist eins der aktivsten Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Tunis. Hier lebt rund ein Drittel der ungefähr 1500 bis 2000 tunesischen Juden – 1948 waren es noch mehr als 50 Mal so viele. Die meisten leben heute auf der Insel Djerba, die anderen vor allem in den Küstenstädten Zarziz, Sfax, Sousse und Tunis.
Wen man auch fragt aus der Gemeinde, keiner wird müde zu betonen, dass es den tunesischen Juden gut gehe. „Alles ist ok, wir haben keine Probleme“, wiederholt Perez Trabelsi routiniert. Gerade hat der Gemeindevorsteher von Djerba die jährliche Pilgerfahrt nach La Ghriba, der ältesten noch erhaltenen Synagoge auf dem afrikanischen Kontinent, erfolgreich und ohne Zwischenfälle unternommen. Dabei hatte es im Vorfeld heftige Diskussionen vor allem über die Einreise israelischer Staatsangehöriger nach Tunesien gegeben.
„Mehr als 200 sind gekommen, wie jedes Jahr“, fügt Trabelsi hinzu. Zu Beginn des Jahres es heftige Debatten in der tunesischen Öffentlichkeit über eine frühere Reise der Tourismusministerin nach Israel und ein Einreiseverbot für israelische Kreuzfahrttouristen gegeben.
Auswandern? Kein Thema
Moché ist diese Diskussionen leid. „Beziehungen zu Israel sind natürlich ein schwieriges Thema, und wie überall gibt es diese Vermischung zwischen Juden und Israelis.“ Er werde oft darauf angesprochen.
„Zu Israel und Palästina hat jeder eine Meinung, überall auf der Welt. Manchmal habe ich keine Lust mehr, ständig darüber zu diskutieren. Wenn ich weggehe, will ich auch einfach mal nur in Ruhe ein Bier trinken“, lacht er. Selbst nach Israel auszuwandern, sei für ihn nie eine Option gewesen.
Die meisten tunesischen Juden, die inzwischen in Israel leben, sind schon lange fort. Auch direkt nach dem politischen Umbruch im Januar 2011 haben einige das Land verlassen, aus Angst vor dem erstarkenden Islamismus in Tunesien. Doch die überwiegende Mehrheit ist geblieben. Inzwischen hat sich die Anzahl der Gemeindemitglieder stabilisiert.
„Es gibt hin und wieder vor allem junge Leute, die ins Ausland gehen, um zu studieren und Karriere zu machen. Bei den Jungen ist es wie bei allen anderen tunesischen Altersgenossen auch“, glaubt Moché. Er selbst hat im Ausland studiert und ist erst 2012 wieder zurückgekehrt. „Ich glaube heute, nach der Revolution, gibt es in unserem Land mehr Möglichkeiten für junge Leute und wir sollten sie nutzen.“
„Wenn man Jude ist, dann ist Sicherheit das wichtigste.“
Abgesehen von einer Demonstration islamistischer Extremisten hatt es seit 2011 längere Zeit keine Zwischenfälle gegeben – doch seit Beginn dieses Jahres waren es schon drei Zwischenfälle, so viele gab es früher nicht mal pro Jahr.
„Das können einfache Auseinandersetzungen zwischen zwei Tunesiern gewesen sein“, meint Moché. So richtig überzeugt klingt er dabei von sich selbst allerdings nicht. „Wenn jemand angegriffen wurde, weil er Jude ist, dann muss die Justiz natürlich ihre Arbeit machen. Wenn man Jude ist, dann ist Sicherheit das wichtigste.“
Während die große Synagoge von Tunis, ein prachtvoller Art Deco-Bau, von weitem als solche zu erkennen ist, erkennt man die meisten jüdischen Einrichtungen in Tunesien eher daran, dass rund um die Uhr Polizeiwachen davor stehen.
„Seit ich klein bin, gab es immer Polizei vor der Synagoge, nur der Stacheldraht war neu“, erinnert sich Moché, und fügt sofort hinzu, dass er sich trotzdem sicher fühle. Der Stacheldraht wurde gerade wieder entfernt, die Absperrungen und die Polizei bleiben. Über Probleme redet man nicht gerne in der jüdischen Gemeinde, von politischen Debatten über Islamisten und Antisemitismus halten sich die meisten lieber fern.
Als 1967, während des Sechs-Tage-Kriegs, in Tunesien jüdische Geschäfte angegriffen wurden, habe es ja schließlich noch keine Salafisten gegeben, merkt Moché an. Vorsichtig ist er trotzdem, sein Nachname solle lieber nicht in den Medien erscheinen, auch sein Foto nicht.
Diskretion ist Tagesordnung
Bloß nicht auffallen, keine Forderungen stellen, lautet bei nicht wenigen die Devise. Ein einziger Jude hatte 2011 bei den Wahlen zur Verfassungsversammlung kandidiert. Gewählt wurde er nicht. Dann wurde 2014 in der Verfassung festgelegt, dass der Staatspräsident Muslim sein müsse. „Das ist doch nicht schlimm, wir haben sowieso keine politischen Interessen“, wiegelt Perez Trabelsi ab.
Moché sieht das etwas pragmatischer. Da es sowieso nicht realistisch sei, dass irgendwann ein Jude Präsident würde, kann auch in der Verfassung stehen, dass er es nicht werden darf. „Das Ergebnis ist doch das gleiche.“ Zu Hause fühle er sich in Tunesien trotzdem. „Ich habe immer das tunesische Fußballteam unterstützt, ich habe auch nur einen tunesischen Pass und damit genau die gleichen Probleme wie alle anderen Tunesier auch, wenn ich reisen will.“
Der junge Finanzwissenschaftler, der inzwischen im Immobilienbereich arbeitet, holt sein Smartphone hervor und zeigt eine Karte von Tunis. Darauf sind ehemalige Synagogen und Gräber bekannter Rabbiner verzeichnet. Mit bloßem Auge sind die meisten von ihnen heute nicht mehr zu erkennen. Gerade mal drei Synagogen gibt es heute noch in Tunis, zwei im Kolonialviertel Lafayette, wo es auch noch zwei koschere Metzger gibt, und eine im Hafenviertel La Goulette, wo auch das jüdische Altenheim steht.
Verfallenes Erbe
Früher hatten die Juden in Tunis vor allem in der Hafsia gelebt, einem Viertel der Altstadt. Auch in den anderen größeren Städten gab es meistens jüdische Viertel. Als die Franzosen 1881 Tunesien kolonisierten, gaben sie den Juden mehr Rechte. Statt „Tunesier“ stand in ihren Ausweisen auf einmal „französischer Schutzbefohlener“, unabhängig davon, ob sie arabischen, französischen oder italienischen Ursprungs waren.
Damals siedelten sich viele Juden in der europäisch geprägten Neustadt an. Heute stehen viele Häuser, die Juden gehört haben, leer, einige verfallen geradezu, denn oft haben ihre Besitzer das Land verlassen und die Eigentumsverhältnisse sind ungeklärt. „Es tut weh, das alles verfallen zu sehen. Aber wir können nicht alles bewahren, da fehlen uns einfach die Mittel“, sagt Moché mit betrübter Miene. Trotzdem hört er nicht auf, die Erben dieser Gebäude zu suchen.
Für die Zukunft wünsche er sich mehr politische und wirtschaftliche Stabilität – „wie alle Tunesier“, betont er mit einem Augenzwinkern. Einen ganz besonderen Wunsch hat Moché dann aber doch: „Dass eines Tages keine Polizei mehr vor der Synagoge steht.“
Sarah Mersch
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Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de