"Ich hatte erwartet, Monster zu treffen"
Ein alter Mann sitzt mit einer roten Optikerbrille in seinem Garten. Ein Jüngerer legt ihm verschiedene Sehstärken ein, während im Hintergrund die Grillen zirpen. Ein meditativer Moment, den Filmemacher Joshua Oppenheimer in "The Look of Silence" einfängt. Doch hier ist nichts harmonisch: der Alte, Inong, gehörte zur paramilitärischen "Pancasila"-Jugend aus Indonesien. Der Jüngere, Adi, hat einen Bruder verloren – und Inong war dessen Mörder. 1965 ließ die Militärdiktatur unter General Suharto vermeintliche Kommunisten umbringen. Zwischen 500.000 und 1,5 Millionen Menschen fielen der Säuberungsaktion zum Opfer. Die Taten blieben bis heute ungesühnt. Wie geht man mit der Trauer um? Darum geht es in Joshua Oppenheimers neuestem Werk.
* * *
Herr Oppenheimer, in Ihrem Dokumentarfilm lassen Sie die Mörder auf den Bruder eines ihrer Opfer treffen. War das nicht riskant?
Joshua Oppenheimer: Als Adi Rukun, der Protagonist meines Films, mir zum ersten Mal sagte, dass er den Mördern gegenüber treten wolle, habe ich nein gesagt. Das sei zu gefährlich, weil die Täter von damals immer noch an der Macht sind. Doch dann erkannte ich, wie wichtig dieses Treffen ist: Es kann den Indonesiern begreiflich machen, wie unerlässlich es ist, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, sich zu versöhnen und eine Art Gerechtigkeit zu finden. Durch mich konnte diese Begegnung ermöglich werden, weil ich in der Region bekannt war.
Sie hatten vorher den Film "The Act of Killing" gedreht, in dem Sie ehemalige Mitglieder der paramilitärischen "Pancasila"-Jugend zu Wort kommen ließen.
Oppenheimer: Der Film war noch nicht draußen, aber man wusste bereits, dass ich mit den mächtigsten Tätern im Lande gesprochen hatte. Und es war klar, dass die Männer, die Adi besuchen wollte, zwar in der Region Macht genossen, aber nicht landesweit. Keiner würde uns angreifen, weil sie Angst hatten, dass ein Kommandant sagt: Wie konntet ihr Joshua Oppenheimer bedrohen? Er ist unser Freund.
Warum ein zweiter Film über die Massenmorde in Indonesien?
Oppenheimer: In keinem meiner Filme ging es bisher darum, was 1965 und 1966 geschah. Sie handeln vielmehr von der Gegenwart, die von einer nicht bewältigten Vergangenheit geprägt ist. Im ersten Film ging es um die Lügen, die die Täter erzählen, um das Regime aufrecht zu erhalten. Der zweite schaute auf die Überlebenden, die gezwungen sind, weiter in Angst unter diesem Regime zu leben.
Sie konzentrieren sich auf eine einzige Bauernfamilie. Warum dieses Zuspitzen?
Oppenheimer: Ein klassischer Dokumentarfilm würde fünf, zehn oder 15 Geschichten von Überlebenden nehmen und einen allgemeinen Überblick verschaffen. Ich dachte aber, das würde den Schmerz und auch die Würde dieser einen Familie schmälern. Ich wollte den Zuschauer fühlen lassen, was es bedeutet, als Überlebender 50 Jahre in Angst zu leben. Was heißt es für Adis Mutter, Rohani, dass sie ihre Kinder auf eine Schule schicken muss, in der sie von den Männern unterrichtet werden, die damals ihren ersten Sohn Ramli töteten?
Sie arbeiten mit poetischen Bildern, mit Momenten der Stille. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Oppenheimer: Ich wollte die Spuren einfangen, die 50 Jahre Schweigen und Angst hinterlassen haben. Die Falten auf Rohanis Stirn. Den Weg des Wassers auf der Haut von Adis 103-jährigem Vater, wenn er gebadet wird. Den Knoten in Adis Hals, wenn er den Schmerz seiner Mutter erlebt. Das ermöglicht es dem Zuschauer, Adis Bruder zu werden und Rohanis Kind. Der Film ist also kein Fenster in eine fremde Welt, die uns eigentlich nicht interessiert und die wir nur durch die geschichtliche oder journalistische Perspektive begreifen. Er ist ein Spiegel, der uns selbst und unsere Menschlichkeit zeigt.
Wie schon in "The Act of Killing" lassen Sie aber auch den Mördern ihre Menschlichkeit – trotz all ihrer Taten. Ist das nicht schwer gewesen, wenn man bedenkt, was sie getan haben?
Oppenheimer: Ich hatte erwartet, Monster zu treffen. Und dann waren das alles Menschen, die sich im Umgang mit ihrer Familie so verhielten wie ich. Ihr Prahlen ist kein Stolz, sondern Unsicherheit. Wir alle sind wie Vögel, die sich aufplustern, um größer auszusehen als wir eigentlich sind. Was diese Männer tun, ist verständlich. Sie werden von schrecklichen, alptraumhaften Taten heimgesucht. Und sie versuchen, das zu überdecken mit einer siegreichen Geschichte, die ihre Taten als Heldentum feiert.
Ihr Film handelt viel von Erinnerungen oder dem Verdrängen von Erinnerungen. Wie wichtig ist denn eine Aufarbeitung der Vergangenheit?
Oppenheimer: Immer wieder hören wir im Film Überlebende sagen: Lasst die Vergangenheit ruhen. Aber sie sagen es immer aus Furcht. Auch die Täter sagen: Lasst die Vergangenheit ruhen. Sie sagen es als Drohung. Doch genau das bedeutet ja, dass die Vergangenheit nicht abgeschlossen ist. Sie ist allgegenwärtig, sie verfolgt beide Seiten und sie zerstört Menschen, indem sie sie traumatisiert zurücklässt. Die Moral des Films ist, dass wir vor unserer Vergangenheit nicht fliehen können, weil sie uns einholt. Mehr noch: Sie macht uns aus.
Sie selbst kommen aus einer jüdischen Familie. Ein Teil Ihrer Verwandten wurde im Dritten Reich ermordet. Inwiefern spielte das eine Rolle?
Oppenheimer: Als ich das erste Mal nach Indonesien kam und die Angst der Leute spürte, hatte ich das schreckliche Gefühl, ich käme 40 Jahre nach dem Holocaust nach Deutschland - nur um herauszufinden, dass die Nazis immer noch an der Macht sind und die Welt den Holocaust gefeiert hatte. Und dann merkte ich, dass es solche Massaker auch auf der südlichen Halbkugel gab. Dass es sich hier nicht um ein wirres Science-Fiction-Szenario handelt, sondern dass solche Dinge an der Tagesordnung sind. Da wusste ich, dass ich alles andere ruhen lassen musste, um mich diesem Film zu widmen.
Warum meinen Sie, dass die Welt den Genozid gefeiert hat?
Oppenheimer: Als der Massenmord 1965 begann, lobte der Westen den Akt, weil die Opfer als Linke und Sympathisanten der kommunistischen Partei galten. Es gibt eine sehr wichtige Szene im Film, aus einem alten TV-Beitrag des US-Senders NBC aus dem Jahre 1967. Also zwei Jahre nach dem Massaker. Darin hören wir einen amerikanischen Reporter berichten, dass es aus Indonesien gute Nachrichten gäbe. Bali sei nun ohne Kommunisten viel schöner. Und es gibt keine kritische Reaktion von dem TV-Sender.
Ist das der Grund, warum Sie als Amerikaner nun eine Versöhnung suchen? Allein "The Look of Silence" wurde bereits mehr als 3.500 Mal in Indonesien gezeigt. Ihre beiden Filme haben eine Diskussion angeregt.
Oppenheimer: Das ist eine wichtige Veränderung, weil die Menschen dieses Thema nicht mehr verschweigen können. Wer auch immer "The Look of Silence" gesehen hat, kann die Angst nicht mehr ignorieren. Die Angst auf Seiten der Opfer, die ihre Kinder in diesem beklemmenden Klima großziehen mussten. Aber auch nicht die Angst auf Seiten der Täter, deren Schuld eine Kluft zwischen ihnen und ihren Mitmenschen erschafft.
Die Mörder im Film weigern sich, ihre Taten zu bereuen. Nur eine Tochter entschuldigt sich bei Adi - im Namen ihres Vaters. Liegt die Hoffnung einer Versöhnung also in der nächsten Generation?
Oppenheimer: Für mich ist diese Szene mit der Tochter einer der bewegendsten Momente, die ich jemals gesehen habe. Die Frau realisiert, dass ihr Vater nicht der Held ist, für den sie ihn gehalten hat. Und anstatt in Panik zu verfallen oder wütend zu werden, hört sie auf ihr Gewissen. Viele Indonesier kommen aus Familien mit Tätern, und für sie kann diese Frau ein Beispiel sein. Ich glaube wirklich, dass die einzige Hoffnung auf Veränderung in der jungen Generation liegt. In Menschen wie Adi und dieser Frau, die die Kluft überspringen, die sie trennt.
Das Interview führte Simon Broll.
© Deutsche Welle 2015
Der US-amerikanische Fimregisseur Joshua Oppenheimer, 40, befasst sich in seinen Dokumentarfilmen immer wieder mit der Geschichte Indonesiens. Sein Werk "The Act of Killing" war für den Oscar nominiert, der Nachfolger "The Look of Silence" wurde 2014 mit dem Großen Preis der Jury in Venedig ausgezeichnet.