Jenseits der sprachlichen Enge
"Die Wechselbeziehungen zwischen Sprache und politischer Unmenschlichkeit – um sie geht es mir in diesem Buch", erklärt Kübra Gümüşay, Aktivistin und Autorin, im ersten Kapitel ihrer kürzlich erschienenen Publikation "Sprache und Sein". Zehn Überschriften gliedern den Essay, die Abschnitte befüllt Gümüşay mit einem oder mehreren Zitaten, gibt Einblicke in Empfindungen und Erkenntnisse, beschreibt die Erfahrungen anderer und ihre eigenen.
Sie beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit Menschen durch Sprache in ihrer Wahrnehmung und ihrem Denken beeinflusst werden und welche Macht Sprache auf unsere Zwischenmenschlichkeit ausübt. Warum der Mensch, so hält die Autorin fest, Kategorien benötigt, um sich sicher zu fühlen und wie er sie etabliert.
Gümüşay hält ihrer Leserschaft vor Augen, was es bedeutet, Teil einer oder diverser Kategorie*n zu sein und mit welchen beschneidenden Fragen sich Individuen innerhalb dieser Kollektive konfrontiert sehen: Wie habe ich mich als Muslim*in zu verhalten? Welche Erwartungen liegen meiner sexuellen Orientierung zu Grunde? Über welche Themen kann man mit mir – "Person of Color" – sprechen? Welche Meinung kann man von mir als Migrant*in erwarten?
Sprache transportiert Privilegien
Die angesprochenen Kategorisierungen erläutert Kübra Gümüşay in einem selbst entworfenen Museum, hier stehen sich Unbenannte und Benannte einander gegenüber, die Sprache der einen formt die Welt der anderen, so die Autorin. Die der Norm entsprechenden Unbenannten stehen den sogenannten Benannten "in Glaskäfigen beschriftet mit ihren Kollektivnamen" gegenüber: "Ausländer, Jude, Muslim, Homosexuelle". Dieser Missstand schallt durch die Zeilen und zieht sich durch das Buch.
Der Aufruf der Aktivistin, sich von diesen Kategorien zu lösen, schlicht als Individuen zu existieren, ist nicht neu. Das macht ihn aber nicht minder wichtig. Sich stetig behaupten und beweisen, das Recht und die Akzeptanz der Individualität immer wieder erkämpfen zu müssen ist nicht nur Kräfte zehrend, hebt Gümüşay hervor, sondern auch verzweifelnd.
Der Schlüssel um diese Käfige zu öffnen, schreibt sie, sei das freie Sprechen: "Ich bin eine Benannte. (…) Und ich bin eine von denen geworden, die so vermessen sind, unaufgefordert zu sprechen, Glaswände sichtbar zu machen, ihre Gefangenschaft zu benennen und zu beenden".
Wenn Widerstand verzerrte Fremdbilder manifestiert
Für diejenigen, die sich dieser Aufgabe verschrieben haben, Käfige aufzubrechen und Kategorien zu demontieren, kann der Widerstand, so Gümüşay, zur Gewohnheit werden. Der Druck der Repräsentation, das Gefühl sich für eine/zwei/drei Kategorie*n, stetig stark machen zu müssen, kann dazu führen sich irgendwann selbst darin zu verlieren.
Die Autorin prangert an, dass sich Muslim*innen "Stück für Stück den Raum für Individualität, für die Freiheit der Fehlerhaftigkeit" nehmen. Mit dem eigenen Selbst unentwegt an ein oder mehrere Kollektiv*e geheftet zu sein, kann zu einem ungesunden und einschränkenden Anspruch der Makellosigkeit führen. Diskussionen um "himmelschreiender Missstände" werden dadurch ausgebremst oder unmöglich, die sich auflehnenden Muslim*innen gar als "verwestlicht oder illoyal verschmäht".
Kübra Gümüşay setzt sich mit der Sprache, den damit verbundenen Privilegien, Stereotypien, und Ambiguitäten intensiv auseinander. In knapp 180 Seiten werden fünfzig Zitate und eine Vielzahl an Anekdoten wiedergegeben - das muss man mögen - stimmig ausgewählt und eingesetzt, wäre gefühlt weniger mehr gewesen. In den einzelnen Kapiteln werden die angesprochenen Kategorien und die damit verbundenen Missstände immer wieder veranschaulicht, unterstrichen und schonungslos benannt – dafür kann man Dankeschön sagen. Öfter.
Sprache hinterlässt Interpretationsspielräume
Unter der Überschrift Wissen ohne Wert greift Gümüşay Bilder und Stereotypien auf, denen Menschen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind: "Was muss ihr Kind wissen?", fragt die Autorin. Und fährt fort: "Muss es beantworten können, warum seine Augen so geformt sind, wie sie sind? (…) Viele Kinder müssen das nicht. (…) Wenn ihre Augen rund sind und damit der weißen Normen entsprechen. Diese Kinder müssen nicht die Beziehung und das Sexualleben ihrer Eltern erklären".
Doch Kinder aus Regenbogenfamilien müssen auch die Sexualität ihrer Eltern erklären, ziemlich oft sogar – das hat Kübra Gümüşay nicht dazu geschrieben. Aber vielleicht wollte sie auch nur nochmal hervorheben: Menschen werden also nicht nur über Kategorien definiert, sondern entwickeln innerhalb dieser Kategorie*n Sensibilitäten, die schnell ein Gefühl von nicht-gesehen- werden generieren können.
Aber auch das ist Sprache, sie hinterlässt Interpretationsspielräume: Wie ist das gemeint? Was wolltest du damit genau sagen? Habe ich dich richtig verstanden? Sprache spielt mit der eigenen Haltung: wie stehe ich zu dieser oder jener Erzählung/Aussage/Person, möchte ich überhaupt verstehen, bin ich offen dafür? – auch darum geht es in Gümüşays Essay.
"Sprache und Sein" ist keine sprachwissenschaftliche Analyse, sondern eine Anekdotensammlung, die – auch wenn man kein Fan von Anekdoten ist – erzählt werden musste, also: absolut wichtig, bereichernd und lesenswert. Gerade jetzt.
Melanie Christina Mohr
© Qantara.de 2020
Kübra Gümüşay: "Sprache und Sein", Hanser Verlag 2020, 208 Seiten, ISBN: 978-3-446-26595-0