Politik der kleinen Schritte und traditionelle Politik

Die Einschätzungen zu den Kommunalwahlen in Saudi-Arabien waren in ihrer großen Mehrheit negativ. Amr Hamzawy plädiert dafür, die historischen und kulturellen Besonderheiten des Landes bei der Analyse in Betracht zu ziehen.

Von Amr Hamzawy

Demokratische Reformer im Mittleren Osten und Experten im Westen stempeln die ersten Kommunalwahlen in Saudi-Arabien als Augenwischerei ab, mit deren Hilfe die königliche Familie versuche, den Druck abzuschwächen, der durch die Rufe nach mehr politischer Freiheit entstanden ist. Rufe, die im Inland wie im Ausland immer stärker zu hören sind.

Eine lange Liste von fehlenden demokratischen Elementen wird angeführt, um zu belegen, dass es sich bei den Wahlen letztendlich um eine einzige Fälschung handele und dass sie keinesfalls ernst zu nehmen seien.

Der Ausschluss von Frauen sowohl als Wählerinnen wie als Kandidatinnen, die geringe Bürgerbeteiligung, lächerliche Kompetenzen der gewählten Gemeinderäte, die von der hohen Politik ferngehalten werden und gerade mal die Stadtplanung und Straßenbeleuchtung diskutieren sollen, und schließlich die Dominanz von Sippenloyalitäten und religiöser Bekenntnisse – dies alles sind nur die wichtigsten der zahlreichen Aspekte, die immer wieder ins Feld geführt wurden, um jedwede positiven Signale, die von den Wahlen ausgehen könnten, von vornherein in Abrede zu stellen.

Sicherlich — und das ist deprimierend genug — von einem liberalen Standpunkt aus betrachtet sind all diese Punkte mit grundlegenden Prinzipien moderner Politik unvereinbar. Und dennoch: Können wir an saudische Kommunalwahlen etwa liberale Maßstäbe anlegen und damit historische wie kulturelle Besonderheiten einfach außer Acht lassen? Meine Antwort ist ein klares Nein.

Politische Rechte waren nie vorgesehen

Seit seinen Anfängen in den 1920er Jahren ist Saudi-Arabien eine absolute Monarchie, die in der konservativen Ideologie des Wahhabismus ihre legitimierende Kraft sah. In der erklärten Absicht, die saudische Gesellschaft gleichzeitig zu einen wie zu modernisieren, entwickelte der Staat eine totalitäre Kontrolle über die Bevölkerung und versagte ihr das Recht, an öffentlichen Angelegenheiten mitzuwirken und sich politisch zu organisieren.

Der öffentliche Raum, also vor allem die Presse- und Medienlandschaft, war unter völliger Kontrolle der Regierung.

Und weil es dem Staat bis zum Ende der 1980er Jahre gelang, mit seinen enormen Ölreserven genügend Erträge zu erwirtschaften um grundlegende soziale Bedürfnisse abzudecken und ein hohes Niveau an Wohlfahrtsausgaben halten zu können, schien die Bevölkerung — im Tausch gegen wirtschaftliche Prosperität — das Nicht-Zuerkennen politischer Rechte zu akzeptieren.

Anders ausgedrückt: Das Infragestellen der Staatsmacht oder gar das Opponieren gegen ihre Politik bildete noch nie einen integralen Teil der sozialen und kulturellen Realität des Wüstenkönigreichs.

Erst in den letzten Jahren, und vor allem seit den Angriffen des 11. September 2001 und den darauf folgenden Veränderungen des regionalen wie globalen politischen Systems, haben die Forderungen nach Reformen und Demokratisierung mehr Aufmerksamkeit bekommen und wurden auch international wahrgenommen.

Wahlen sind nur ein erster Schritt

Hält man sich dies vor Augen, bedeutet das Abhalten von Gemeinderatswahlen in Saudi-Arabien, trotz aller aufgezählten Versäumnisse, zumindest eine Erweiterung des politischen Spektrums und wahrscheinlich auch einen ersten Schritt hin zu mehr Bürgerbeteiligung im politischen Prozess.

Dennoch ist es nicht so leicht, diese Einschätzung zu den saudischen Wahlen und auch zu dem jüngsten Reformpaket der königlichen Familie, mit dem sie den Forderungen nach Demokratisierung entgegenkommen will, zu artikulieren.

Nimmt man die lokalen Besonderheiten ernst, besteht die größte Schwierigkeit darin, sich nicht in einer reinen Apologie zu verfangen. Kleinste Demokratisierungsschritte würden dann als wirkliche Veränderungen gefeiert und das Fehlen echter Demokratie mit dem Hinweis auf die Ausnahmestellung Saudi-Arabiens letztendlich legitimiert, ganz gleich, ob es sich bei letzterer um eine religiös begründete, eine kulturelle oder eine soziale Sonderstellung handelt.

Um dieser Gefahr zu entgehen, mögen zwei wichtige Konzepte helfen: die "Politik der kleinen Schritte" (gradualism) und das Konzept der "Traditionellen Politik".

Das Reformieren autoritärer Systeme kann nur in kleinen Schritten vollzogen werden. Es ist ein holpriger Pfad, der dabei beschritten werden muss und ein Weg, der nach Schaffung neuer politischer Räume verlangt, in denen die Bürger lernen müssen, ihre Rechte auszuüben und die öffentliche Wahlfreiheit zum leitenden Prinzip der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft zu machen.

Ambivalenzen müssen hingenommen werden

Die Ambivalenz gegenüber gewissen Themen wie der Rolle der Religion in der Politik oder der Ausschluss bestimmter Gruppen, die durchaus mehr als 50% der Gesamtbevölkerung ausmachen können, gehören, ob wir es mögen oder nicht, zur Umsetzung politischer Reformen in einem Land wie Saudi-Arabien ebenso dazu wie mögliche Rückschläge in der Zukunft.

Was aber wirklich zählt, ist nur, ob die Dynamik des Reformprozesses sich verstetigt und zu einer schrittweisen Verminderung des Maßes wie der Reichweite dieser Ambivalenzen und Ausgrenzungen innerhalb einer angemessenen Frist führt.

Die Politik der kleinen Schritte ist kein Synonym für politische Stagnation. Im Gegensatz zu anderen Staaten des Mittleren Ostens wie Ägypten oder Jordanien, die bereits mehr als zwei Jahrzehnte des Reformprozesses hinter sich haben (und substantielle Fortschritte noch immer vor sich), steht Saudi-Arabien erst am Anfang des Weges, und es wird einige Zeit dauern, bis wir zu einer objektiven Einschätzung der unternommenen Reformen kommen können.

Anstatt normative Bewertungen abzugeben, sollten wir uns bewusst machen, was zurzeit tatsächlich am dringendsten gebraucht wird: ein Vertrauensvorschuss für den Neuanfang und das Lernen, wie mit den Ambivalenzen umzugehen ist, die der Reformprozess mit sich bringt.

Ethnizität gehört zur politischen Realität

Auf der anderen Seite müssen sich sowohl die Reformer in Saudi-Arabien wie auch die Experten im Ausland fragen, wie es zu ihrer negativen Sicht traditioneller Politik kommt. Fast jeder Beobachter der Gemeinderatswahlen fühlte sich bemüßigt, auf den Einfluss von Sippenloyalitäten auf die Wahlentscheidung hinzuweisen, die ihrer Meinung nach dem Sinn demokratischer Reformen in Saudi-Arabien zuwiderliefen.

Unsinn! Die Betonung der Ethnizität spricht nicht per se für die Rückständigkeit des saudischen politischen Spektrums, sondern bildet sogar eher ein pluralistisches Moment.

Während des gesamten 20. Jahrhunderts versuchten sich die arabischen Nationalstaaten zu modernisieren, indem sie ethnische wie religiöse Unterschiede einebnen wollten. Herausgekommen sind dabei autoritäre Regime verschiedener Ausprägungen und verschiedenen Grads von Brutalität und Repression.

Das Auftauchen der Ethnizität gehört zur politischen Realität Saudi-Arabiens (wie zu der des Iraks) und wird, früher oder später, den Reformprozess vorantreiben. Schließlich wird nur ein sich demokratisierendes, konsensorientiertes Gemeinwesen bestehende ethnische Unterschiede auf friedlichem Wege in Einklang bringen können.

Amr Hamzawy

© Amr Hamzawy

Aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Qantara.de
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