Kochende Wut
Nach 40 Jahren israelischer Besatzung stehe das Volk von Palästina kurz vor einem Bürgerkrieg, warnte Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas. Der Kampf zwischen der islamistischen Hamas und der nationalistischen Fatah sei schlimmer als das Leben unter israelischer Besatzung, so der Präsident.
Eine ähnliche Situation findet sich derzeit im Libanon, wo die pro-westliche Regierung mit der von der Hisbollah geführten Opposition und die libanesische Armee mit von al-Qaida inspirierten militanten Splittergruppen wie Fatah al-Islam oder Dschund al-Scham zu kämpfen haben.
Zudem bildet das Land auch ein Schlachtfeld für den Krieg der USA und ihrer Verbündeten auf der einen und dem Iran und Syrien auf der anderen Seite.
Im Nahen Osten brodelt es, nicht nur in Palästina, Libanon oder Irak. Washington nennt es "Aufklärung", doch in Wirklichkeit entwickeln sich in der Region tief greifende Krisen, die schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesellschaft im Nahen Osten haben werden. Hierfür sehe ich drei ausschlaggebende Gründe:
Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich
Der erste ist die immer weiter auseinander klaffende sozio-ökonomische Schere zwischen einer kleinen Elite einerseits und weiten Teilen der arabischen Bevölkerung andererseits. Bis zu 40 Prozent der arabischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. In Elendsvierteln rund um arabische Städte von Ägypten bis Sudan kämpfen Millionen junger Muslime ums Überleben, ohne den geringsten Anteil an der gesellschaftlichen Hierarchie.
Durch verschiedene Entwicklungen wird diese Schere zwischen Arm und Reich immer gefährlicher: obsessives Konsumdenken, die neuen Medien, die jeden Winkel der arabischen und muslimischen Welt erreichen und die Ablehnung von sozialer Verantwortung durch die arabischen Staaten.
Gewaltbereitschaft hält Einzug in diese Elendsviertel. Seit ihren Anfangstagen in den 1970er Jahren war die dschihadistische oder militante islamistische Bewegung eine Angelegenheit der Elite. Einige sehr intelligente, ausgesprochen gebildete junge Männer führten die Dschihad-Bewegung von ihren Anfängen bis in die 1990er Jahre.
Nun verbreitet sich ihre Ideologie in den Armenvierteln der Städte in der gesamten Region, die die jüngsten Selbstmord-Anschläge in Algerien oder Marokko zeigen.
Machtlose Politik
Die USA glauben daran, dass das arabische Staatssystem beständig ist, dass es vielen Tiefschlägen widerstanden hat. Doch wie lange kann erzwungene Beständigkeit andauern?
An diesem Punkt in der Geschichte ist eine gesellschaftliche Revolution nicht sehr wahrscheinlich, doch ein minimales Ereignis – eine Rangelei bei einem Fußballspiel, ein Protest gegen die Verletzung der Menschenrechte durch Sicherheitsdienste oder ein Hungerstreik – kann Chaos verursachen.
Ich hoffe, ich irre mich, doch es würde mich nicht überraschen, eines Morgens aufzuwachen und ganze Edel-Wohnviertel in arabischen Städten brennen zu sehen, die den aufgestauten Ärger und die angesammelte Wut in der Region zum Ausdruck bringen.
Ein zweiter Grund liegt darin, dass sich die politische Autorität und das Volk immer weiter voneinander entfernen. Noch nie sind offizielle politische Autoritäten so machtlos gewesen. Ein Umstand, der sich durch die schlechte Wirtschaftspolitik und die allgemein verbreitete Meinung, arabische Staatsmänner seien der US-Außenpolitik gegenüber allzu unterwürfig, nur verstärkt.
Es besteht Einigkeit darüber, dass der Status Quo nicht länger akzeptabel ist. Gemäßigte Stimmen fordern das Volk zu zivilem Protest auf, radikale und nationalistische Islamisten rufen zur offenen Revolte auf. Paradoxerweise ist die Opposition vollkommen zersplittert.
Gemäßigte Islamisten als Alternative?
Es verwundert also wenig, dass die gemäßigten Islamisten die einzige brauchbare Alternative zu den verhältnismäßig säkularen Staatsautoritäten bilden. Die Fragmentierung der gesellschaftlichen und politischen oppositionellen Gruppen hat zu einer Bipolarisierung geführt, in der die gemäßigten Islamisten, insbesondere die Muslimbrüder, die größte Herausforderung für den Status Quo darstellen.
In fast allen arabischen Gesellschaften konnten sich die gemäßigten Islamisten - als Gegenmodell zu den radikalen oder militanten Islamisten - als führende politische Kraft etablieren.
Liberale machen die pro-westlichen arabischen Regimes für diese Dychotomie verantwortlich, die aus den geschlossenen politischen Systemen und dem Unterbinden von progressiven, säkularen Strömungen entstehen konnte.
Während die Regierungen progressive Stimmen erfolgreich zum Schweigen gebracht haben, konnten sie dies bei den Islamisten nicht erreichen. Die Islamisten verfügen über ihr eigenes Netzwerk, über Moscheen, Schulen und eine soziale Infrastruktur.
In gewisser Weise haben muslimische Staatsoberhäupter es ermöglicht, dass gemäßigte Islamisten die einzige vorstellbare politische Alternative in der Region darstellen.
Von den Eliten enttäuscht
In Imaba, einer der ärmsten Gegenden Ägyptens, sagt ein Mann: "Stellen Sie sich vor, mein Sohn wird krank, um zwei Uhr früh. Er könnte sterben. Wen rufe ich? Wer ist hier?" Er zählt darauf, dass die Muslimbrüder ihm einen Arzt schicken. "Was glauben Sie, wen ich wähle? Die Regierung oder die Muslimbrüder?"
In den letzten 50 Jahren haben Autoritarismus und ideologische Ruhigstellung die Kraft der arabischen Bevölkerung aufgezehrt und sie von den politischen Entwicklungen entfernt. Sie haben genug von den Eliten – sowohl von der regierenden Elite wie von der Opposition, die ihnen beide den Himmel versprechen.
Traurigerweise liefern auch die gemäßigten Islamisten keine Visionen oder Vorschläge für die Etablierung eines gefestigteren sozialen Systems oder die Änderung der politischen Systeme. Sie skandieren leere Phrasen wie "der Islam ist die Lösung".
Ein dritter, aktuellerer Grund ist der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Selbst in Gesellschaften, in denen traditionell kaum Schiiten leben, ist der Konflikt spürbar. In Interviews sagten mir einige radikale Islamisten, dass die Schia eine größere Bedrohung für die Sunniten darstelle als die Amerikaner. "Amerika kann nie in das gesellschaftliche Bewusstsein der Sunniten eindringen, die Schia schon", sagen sie.
Länderübergreifender Gesinnungskampf
Obgleich der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten eher politischer und ideologischer Natur ist als religiöser, bedroht er seit dem Irak-Krieg den Frieden vom Libanon über Syrien bis zu den Golfstaaten.
Unglücklicherweise hat die US-Politik den Abgrund zwischen dem Schiitenstaat Iran und den sunnitischen Staaten Ägypten, Saudi-Arabien, Kuwait und Jordanien vergrößert und indirekt die Saat für einen länderübergreifenden Gesinnungskampf zwischen den zwei muslimischen Gruppen gesät.
Pro-westliche arabische Regierungen manipulieren diese Kluft, um die iranischen Strömungen im arabischen Raum zu bekämpfen.
Die Schuld an diesen oben aufgeführten Gründen wird meist bei den USA gesucht. Immer wieder wird mir gesagt, dass Verwestlichung und Globalisierung, die US-Unterstützung für Israel und autoritäre muslimische Regimes, ebenso wie die Kriege der Amerikaner im Irak und in Afghanistan die Gründe für all die Übel sind, an denen die muslimischen Gesellschaften kranken.
Wenige erkennen die internen Krisen, die diese arabischen Gesellschaften bis in die Grundmauern erschüttern. Einem imperialistischen Amerika den Schwarzen Peter zuzuschieben ist die einfache Lösung.
Warten auf neue US-Regierung
Es ist aussichtslos, darüber zu reden, was die Bush-Regierung dafür tun kann, um eine Eskalation in der Region zu verhindern. Wir können nur auf die nachfolgende Regierung warten, eine, die die US-Truppen aus dem Irak abzieht, um sich den brodelnden Konflikten der Region zu widmen, besonders dem Israel-Palästina-Konflikt.
Die neue Regierung muss zusammen mit internationaler Unterstützung einen neuen Marshall-Plan für den Nahen Osten erarbeiten, um den Arabern zu helfen, ihre Wirtschaft wieder zu beleben. Eine Supermacht wie die USA, die ein reges Interesse an der Region hat, kann es sich nicht leisten, tatenlos zuzusehen.
Meine Gespräche mit einer großen Bandbreite von Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft und führenden Intellektuellen haben mich zu der Überzeugung gebracht, dass arabische und muslimische Regimes ohne Druck von internationaler Seite Veränderungen verweigern werden.
Seit der Invasion im Irak und der darauf folgenden Zerstörung nehmen die Muslime die Reden der Bush-Regierung über Demokratie nicht länger ernst und sehen sie nur als Hinterlist, um die islamische Welt zu unterwerfen. Liberale fordern die Bush-Regierung auf: "Bitte lasst uns in Ruhe. Ihr habt unseren Plänen für Demokratie genug geschadet".
Laut Umfragen steht Demokratie bei der arabischen Bevölkerung nicht sehr hoch im Kurs. Mehr sorgen sie sich um ihr tägliches Brot. Demokratie ist ein Luxusgut für Zeiten, in denen das wirtschaftliche Überleben gesichert ist.
Das heißt nicht, dass die arabische Bevölkerung Demokratie nicht begrüßen würde. Allein, das Reden über Demokratie nützt ihnen wenig, wenn nicht auch Taten folgen, beispielsweise eine produktive soziale Basis, eine gerechte Judikative und die Einhaltung von Menschenrechten etabliert werden.
Fawaz A. Gerges
© YaleGlobal online 2007
Übersetzung aus dem Englischen von Rasha Khayat
Fawaz A. Gerges, Inhaber des "Christian Johnson Chair" am Institut für Nahost-und Internationale Angelegenheiten an der Sarah Lawrence University in New York, veröffentlichte kürzlich das Buch "Journey of the Jihadist: Inside Muslim Militancy" bei Harcourt Press. Gerges ist derzeit Carnegie Scholar und Gastprofessor an der American University Chicago.
Qantara.de
Israel, Westjordanland und Gaza
Wie geht es weiter?
Der Sieg der Hamas in Gaza hat die politische Lage in der Region entscheidend verändert. Wie geht es nun weiter? Yossi Alpher analysiert die Situation.
Sunniten und Schiiten im Irak
Düstere Aussichten
Pessimisten sehen im Irak viele Anzeichen dafür, dass der derzeitige Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten nicht überwunden werden kann. Ahmad Al- Saadawi mit Hintergründen
Im Schatten des Libanonkriegs
Verlierer ist die Demokratie
Der Krieg im Libanon hat vieles verändert, auch die gesellschaftlichen Debatten, die in den letzten Jahren in der arabischen Welt geführt wurden. Insbesondere die Notwendigkeit der Demokratisierung der arabischen Welt ist im aktuellen Diskurs in den Hintergrund getreten, meint Amr Hamzawy.
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YaleGlobal online (engl.)