„Wir müssen sie jetzt zurückholen”

Selfie eines Pärchens am Strand, sie tragen Sonnenbrillen
Schmerzlich vermisst: Or und Eynav Elkayam Levy. Sie wurde am 7. Oktober ermordet, er entführt. Ors Bruder Michael kämpft bis heute für einen Geiseldeal. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

Für Michael Levy ist nichts mehr wie früher, seit die Hamas seinen kleinen Bruder Or entführt hat. Jeden Tag kämpft er um ihn, hat sogar seinen Job hingeschmissen. „Für mich fühlt sich dieses Jahr an wie ein sehr langer und sehr furchtbarer Tag”, sagt er im Interview.

Interview von Judith Poppe

Vor einem Jahr wurde Ihr Bruder Or Levy vom Nova Festival entführt. Ors Frau Einav wurde vor seinen Augen von einer Granate der Hamas getötet. Wie hat sich Ihr Leben seit diesem Tag verändert? 
 
Die Zeit seitdem fühlt sich für mich an, als lebte ich das Leben eines anderen. Ich schaue manchmal in den Spiegel und erkenne mich nicht wieder. Mein ganzes Leben hat sich komplett verändert. Ich war zuvor Manager in einer internationalen Firma, doch seit dem 7. Oktober arbeite ich nicht mehr. Ich kämpfe rund um die Uhr, an jedem Tag der Woche, dafür, meinen Bruder aus den Händen der Hamas zu befreien. Bis vor einem Jahr habe ich es vermieden, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Seit einem Jahr treffe ich so viele Staats- und Regierungschefs, Präsidenten und Außenminister, sogar den Papst, dass ich mich nicht mehr an alle erinnern kann. 

Ich tue alles, was ich kann, um bei den Regierungsvertretern auf einen Deal zu drängen und dafür zu sorgen, dass die Ereignisse nicht vergessen werden. Ich gebe laufend Interviews, auch Sendern wie Al Jazeera, die keine großen Fans von Israel sind. Denn von freigelassenen oder von der Armee befreiten Geiseln wissen wir, dass sie in Gaza manchmal Nachrichten mitgekriegt haben, dass sie hier und dort einige Bilder aufschnappen konnten. Das ist mein Weg, zu Or durchzudringen, ihm zu zeigen, dass wir alle kämpfen und nicht aufgeben werden. Manchmal richte ich mich auch direkt an ihn, durch die Kamera oder im Radio und hoffe, dass er es sieht. 

Michael Levy bei einer Veranstaltung für die Geiseln der Hamas.
Michael Levy, 41, lebt in Ganei Tikva in Zentralisrael. Bis zum 7. Oktober 2023 arbeitete er als Manager in einer internationalen Firma. Foto: privat

Ors Sohn Almog ist im vergangenen Jahr drei geworden. Seit dem 7. Oktober lebt er bei seinen Großeltern. Versteht er, was vor sich geht? 

Ich bin nicht sicher, was er versteht, aber ich weiß, dass er sie beide vermisst. In den Wochen und Monaten nach dem 7. Oktober hat er immer wieder nach ihnen gefragt und geweint. Heute spricht er noch manchmal über sie, aber ich bin mir nicht sicher, an wie viel er sich erinnert. Fast ein Drittel seines Lebens lebt er ja jetzt schon ohne seine Eltern. Wenn wir ihm Bilder von allen zeigen und auch von seinem Vater, denkt er manchmal, dass ich das bin. Aber vor einigen Wochen ist mein anderer Bruder mit Almog an den Strand gegangen, so wie es Or und Einav vor dem 7. Oktober oft mit ihm gemacht haben. Und plötzlich, als er den Strand sah, fragte er: „Meinst du, Papa kommt wirklich zurück?“ Für uns war das ein Zeichen, dass er sich an diese Tage am Strand erinnert. 

Sie sind sich sicher, dass Or noch lebt?  

Ich weiß, dass er lebend entführt wurde und dass er nicht verletzt wurde. Wir haben ein Video davon und die Armee geht davon aus, dass er lebt. Wir haben also keinen Grund, etwas anderes zu glauben. Ich möchte fast sagen, dass ich es fühle, aber manchmal frage ich mich, ob ich es mir einbilde, oder ob es wirklich real ist. Ich versuche, mit ihm zu reden und ihm Kraft zu schicken.  

Sie sind seitdem viel international unterwegs. Was macht das mit Ihrer eigenen Familie?  

Wenn man es zusammenrechnet, war ich wahrscheinlich die Hälfte des Jahres im Ausland unterwegs. Oft kommt Zeitverschiebung hinzu, dann ist es schwer, mit meiner Familie zu telefonieren. Und oft macht es meine Töchter noch trauriger, wenn ich unterwegs bin und wir telefonieren. Sie sind noch jung, die älteste ist zehn, die Zwillingsschwestern sind sieben. Sie haben alle ihre eigenen Probleme und bräuchten mich. Aber selbst, wenn ich hier bin, bin ich zwar körperlich da, aber mein Kopf ist woanders. Ich versuche, so präsent zu sein, wie ich kann, aber es ist schwer. 
 
Sie waren in den letzten Tagen wieder unterwegs, auch in den USA. Glauben Sie, dass die USA genug Druck auf Netanjahu ausüben werden, um endlich ein Geiselabkommen zu erreichen? 

Ich denke, in dieser Frage liegt gewissermaßen das Problem mit der internationalen Gemeinschaft. Denn Israel, die israelische Regierung und Premier Netanjahu bekommen bereits viel Druck. Sie sollten ihn auch bekommen und erfahren ihn auch von uns, den Familienangehörigen der Geiseln. Doch die internationale Gemeinschaft vergisst eine wichtige Sache: die andere Seite. Solange wir davon ausgehen, dass die Hamas einfach jedem Deal zustimmen wird, der auf den Tisch kommt, wird sich nichts ändern. 

Dass die internationale Gemeinschaft nicht viel Druck auf die Hamas ausübt, liegt sicher auch daran, dass sie nicht direkt mit der Hamas sprechen kann, sondern nur über Vermittler. Und diese Vermittler, insbesondere Katar, spielen meines Erachtens ein doppeltes Spiel. Sie sprechen mit der westlichen Welt und finanzieren die Hamas. Sie lassen die Hamas-Spitze in Doha wie Könige leben. Sie können eigentlich keine ehrlichen Vermittler sein – aber das ist das, was wir haben und womit wir jetzt umgehen müssen. 

In meinen Augen müsste der Druck auf Katar wesentlich erhöht werden. Doch Katar spielt eine enorme Rolle in der internationalen Finanzwelt. Sie finanzieren einige der größten Universitäten der USA, sie besitzen Fußballmannschaften, in Deutschland halten sie 17 Prozent von Volkswagen. Ich glaube, deswegen schreckt die internationale Gemeinschaft davor zurück, Druck auf Katar auszuüben. Doch genau das müsste passieren. Es dreht sich so viel um Politik, aber für mich geht es eigentlich nicht darum: Es geht um meinen kleinen Bruder, den ich zurück nach Hause bringen will. 
 
Dafür demonstrieren Sie jede Woche, auch gegen Netanjahu. 

Das sind zwei unterschiedliche Kundgebungen, die jeweils stattfinden: Die der Familienangehörigen und die der Regierungsgegner. Die meisten Familienangehörigen sind nicht gegen die Regierung und nicht gegen Netanjahu. Ganz ehrlich: Ich würde mit jedem zusammenarbeiten, der bereit ist, meinen Bruder zurückzubringen. Ich würde selbst mit Sinwar kooperieren, wenn das meinen Bruder zurückbringt. Wissen Sie, ganz unabhängig von meinen politischen Ansichten und denen der anderen Geiselfamilien: Wir haben keine Zeit, auf eine neue Regierung zu warten. Wir müssen sie jetzt zurückholen.  

Ein kleiner Raum mit zwei Fenstern, unter ihnen steht ein Bett, das mit Plastik abgedeckt ist.
Das Bett des Ehepaars in Givatayim, Israel, zeugt von der Leere, die die Verbrechen der Hamas im Leben vieler Israelis hinterlassen haben. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | O. Balilty

Die Situation eskaliert in der gesamten Region, insbesondere im Libanon. Israel hat Angriffe über die von der Hisbollah benutzten Pager ausgeführt, den Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah getötet und nun eine Bodenoffensive im Süd-Libanon gestartet. Beunruhigt Sie das?    
 
Wissen Sie, ich war froh zu hören, dass die Terrororganisation Hisbollah, die auf die Vernichtung Israels abzielt, schwer getroffen wurde und mit jeder Sekunde schwächer wird. Andererseits denke ich, dass dies nur die erste Stufe ist. Die nächste Stufe sollte eine diplomatische Lösung sein, die das ganze Problem in Israel/Palästina lösen muss. Doch jede Lösung kann erst nach der Rückkehr der Geiseln beginnen. Das muss auch die internationale Gemeinschaft verstehen. Dieser Krieg wird nicht enden, bevor die Geiseln wieder zu Hause sind. 

Was werden Sie am Jahrestag des 7. Oktobers tun? 

Ich bin mir des symbolischen Datums bewusst. Und ich bin froh, dass das Interesse der Medien an den Geiseln damit wieder aufflammt. Das war ja vor ein, zwei Monaten ganz anders. Aber gleichzeitig ist der 7. Oktober für mich nur ein weiterer Tag des Kämpfens. Und tatsächlich habe ich nicht das Gefühl, fast ein Jahr läge hinter uns. Für mich fühlt sich dieses Jahr an wie ein sehr, sehr langer und sehr furchtbarer Tag. 
 
Dieses Interview wird auch in arabischer Sprache veröffentlicht. Was ist Ihre Botschaft an die arabischen Leserinnen und Leser?  

Ich hasse niemanden. Ich will nicht, dass jemand leidet. Ich hasse es, Menschen in Gaza oder im Libanon leiden zu sehen, oder in Israel und an jedem anderen Ort der Welt. Ich will, dass meine Mädchen in Frieden aufwachsen. Ich will, dass der Krieg endet. Aber wir müssen auch verstehen, dass die Verursacher Organisationen wie die Hamas und die Hisbollah sind, wohinter wiederum der Iran steht. Und solange die Menschen sich nicht dagegen wehren und solange es Geiseln in Gaza gibt, wird sich nichts ändern. Nicht für uns als Israelis und nicht für die arabischen Länder. Wir werden alle darunter leiden.

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