Auf der Suche nach einer gerechten Religion
Wenn in Deutschland über den Islam geredet wird, geht es meistens um Integrationspolitik oder Terrorbekämpfung. Und obwohl der Islam mittlerweile ein mediales Topthema geworden ist, wird viel zu selten über die Religion selbst geredet. Das ist ein großes Manko. Wenn sich die Öffentlichkeit mehr über den Islam als Religion – und nicht als vermeintlich demokratiefeindliche Ideologie – informieren würde, würde sie endlich darüber aufgeklärt, dass der Islam tatsächlich eine Religion ist wie jede andere.
Zu dieser Aufklärung könnte das jüngste Buch der ehemaligen MTV-Moderatorin Kristiane Backer, die 1995 den Islam annahm, beitragen. Denn bei "Der Islam als Weg des Herzens" handelt es sich nicht um unreflektierte Konvertitenprosa, sondern um eine gewissenhafte und kritische Auseinandersetzung mit den zahlreichen verschiedenen Traditionen und Strömungen im Islam. Der spirituelle Weg der Autorin endet nicht mit der Unterwerfung unter orthodoxe Glaubensdogmen – im Gegenteil: "Wer Antworten auf die großen, essentiellen Fragen (…) und eine spirituelle Praxis sucht, die leicht zu erschließen ist", schreibt die Autorin, "für den ist der Islam ein wunderbarer Weg. Jedoch nicht der einzige."
Wettstreiten um gute Taten
Backer verweist in ihrem Buch gleich zweimal auf die Metapher, der zufolge die Religionen nichts anderes seien als Schöpfkellen, mit denen der Mensch aus dem Brunnen der Gotteserfahrung schöpft. In diesem Zusammenhang zitiert die Autorin auch Sure 5:48 des Korans: "Jedem Volk haben wir einen Rechtsweg und eine Glaubensrichtung zugewiesen. Wenn Gott gewollt hätte, hätte Er euch zu einem einzigen Volk gemacht. Er hat euch aber verschieden geschaffen, um euch zu prüfen und zu erkennen, was ihr aus den euch offenbarten verschiedenen Rechtswegen und Glaubensrichtungen macht. Wetteifert miteinander, gute Werke zu vollbringen!"
Kristiane Backer beschwört nicht einfach die Friedfertigkeit ihrer Religion wie die von einer hochtourigen Debatte bedrängten Islamfunktionäre. Nein, Backer bezieht sich immer auf das heilige Buch der Muslime und andere islamische Quellen. Außerdem lässt sie zahlreiche international anerkannte islamische Gelehrte zu Wort kommen und referiert gewissenhaft und überzeugend deren Auslegungen des Islams als eine tolerante Religion der Menschlichkeit.
Unter anderem stellt sie den englischen Islamgelehrten Martin Lings vor, den Großmufti von Bosnien und Herzegowina, Mustafa Ceric, den kuwaitisch-amerikanischen Theologen Khaled Abu Fadl, aber auch islamische Feministinnen wie Asma Barlas, Leila Ahmed oder Amina Wadud.
Mit dem mittlerweile verstorbenen britischen islamischen Gelehrten Gai Eaton diskutiert Kristiane Backer über die Deutung des dschihad. In der westlichen Öffentlichkeit wird dieser Begriff oft als Aufruf zum Krieg gegen die Ungläubigen verstanden. In Bezug auf die islamischen Quellen zeigt sich hier jedoch eine ganz andere Bedeutung. "Der große dschihad ist (…) die lebenslange Arbeit an sich selbst", schreibt Backer mit Bezug auf Eaton, "das Bemühen, religiöse Pflichten einzuhalten, den Charakter zu festigen und zu verbessern. Aufrichtigkeit, Mitmenschlichkeit und Zivilcourage sind Werte, die der große dschihad belohnt."
Selbst Salman Rushdie, eines der prominentesten Opfer gewaltbereiter Islamisten, dass der Koran im Vergleich mit der Bibel keineswegs gewaltverherrlichender sei. In diesem Zusammenhang zitiert Backer das heilige Buch der Muslime und belegt, dass man den Koran tatsächlich als Botschaft des Friedens interpretieren kann. "'Gott liebt nicht diejenigen, die Überschreitungen begehen' (Koran, 2:190), heißt es (…) ausdrücklich. Terrorismus gründet sich auf Hass und Rache, und genau davor warnt der Koran: 'Euer Hass gegen einige Menschen soll Euch nicht dazu führen, ungerecht zu sein' (Koran, 5:8)."
Ein an mehreren Stellen aufgegriffenes Thema ist das Vergelten von schlechten Taten mit guten Taten. Auch hier beruft sich Backer auf den Koran und zitiert Sure 41:34: "Die gute Tat ist der schlechten nicht gleichzusetzen. Erwidere die schlechte, die dir geschieht, mit einer guten! So wird derjenige, mit dem eine Feindschaft bestand, zu einem Freund."
Islam und die Rolle der Geschlechter
Auch in ihrer Rolle als Frau setzt sich Kristiane Backer kritisch mit ihrer Religion auseinander. Sie ist keineswegs bereit, ihr selbstbestimmtes Leben aufzugeben. Sie zeigt sich schockiert, wenn jemand aus ihrem Umfeld die untergeordnete Rolle der Frau gegenüber dem Mann als eine Selbstverständlichkeit ansieht, und lehnt diese Rollenbilder konsequent ab. So trifft sich Backer mit der in Aachen geborenen und in Hamburg und London lehrenden Theologin Halima Krausen und diskutiert mit ihr die oft zitierte Passage im Koran, mit welcher angeblich gebilligt wird, dass der Mann seine Frau körperlich züchtigen darf.
Krausen zufolge handelt es sich hier um eine Fehlinterpretation – die betreffende Vokabel im Kontext der Entstehung des Korans trage die Bedeutung "ermahnen". Außerdem würde der Koran in der gleichen Sure die Frauen ebenso dazu aufrufen, ihre Männer in der gleichen Weise zu "ermahnen". Abgesehen davon, sei Gewalttätigkeit im Islam ein Scheidungsgrund, so Krausen.
Halima Krausen ist keine Einzelkämpferin: Viele maßgebliche reformerische Impulse im Islam sind in den vergangenen zehn Jahren aus dem Wirkungskreis des 'Islamischen Feminismus' hervorgegangen, insbesondere in Indonesien, Malaysia, Marokko, Großbritannien und den USA.
Ein internationales Panorama islamischen Lebens
Neben der Einführung in die zeitgenössische Hermeneutik des Islams ist "Der Islam als Weg des Herzens" auch eine Biografie der Autorin. Backer beschreibt ihren Weg von dem kleinen Radiosender im Hamburg zu dem Musiksender MTV in London, sie erzählt vom Celebrity-Leben mit den Stars der Musikbranche, vom rauschend-glamourösen Sommerfest in der Londoner Residenz von Mick Jagger, von ihren Besuchen in Pakistan und der Bewunderung für die heiter gelebte Religiosität der einfachen Leute, die es dort – neben dem religiösem Fanatismus – eben auch gibt.
Backer erzählt, wie sie mit Freunden im Hippieviertel von San Francisco über die Dichtung des islamischen Mystikers Rumi diskutiert, sie schildert die Sitzungen bei einer skurrilen Sufi-Gruppe in London, die Begegnung mit einer erfolgreichen Geschäftsfrau aus Saudi-Arabien, die Besonderheiten des europäischen Islams in Bosnien-Herzegowina – und schließlich auch die Strapazen ihrer Pilgerfahrt nach Mekka. In diesen autobiografischen Passagen spart sie das schmerzliche Scheitern ihrer Ehe mit dem marokkanischen Fernsehjournalisten Rachid Jaafar nicht aus und kommt zu dem Schluss, dass es nicht zuletzt die kulturellen Unterschiede waren, die ein gemeinsames Leben unmöglich machten.
Bei diesem Buch handelt es sich also nicht um unreflektierte Feel-Good-Werbung einer unbekümmerten Konvertitin, die ihr Heil in weltfremden spirituellen Sphären gefunden zu haben meint, sondern um eine lebendige wie aufrichtige Auseinandersetzung mit den Widersprüchen von Glauben und Leben. Allein aber Kristiane Backers Darstellung der unterschiedlichen Spielarten des Islams erschüttert das weit verbreitete Vorurteil, dass diese Religion sich zum Ziel gesetzt hat, die westlich-freiheitliche Grundordnung zu unterwandern. Das Buch wirkt hier geradezu wie ein Gegengift zu den überreizten Islam-Debatten.
"Der Weg des Herzens" macht allerdings auch deutlich, dass der Islam in Bewegung ist, dass es im Innern dieser Religion gärt, weil es verschiedene Auslegungen gibt, die miteinander konkurrieren. Wenn es im Westen und in Deutschland nicht gelingt, den Blick für die von Backer glaubwürdig vorgestellte tolerante Auslegung des Islams freizumachen, wird es keine gelingende Integration von Muslimen in diesem Land geben. Deswegen sind die Lektionen von Backers Buch eine große Chance für die Zukunft des Miteinanders in Deutschland.
Lewis Gropp
© Qantara.de 2011
Kristiane Backer: "Der Islam als Weg des Herzens", Ullstein Berlin, 424 Seiten, 9,95 Euro
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de