In den Ruinen von Cizre
Der Geruch von verbranntem Fleisch liegt schwer im Kellerraum. Wenig erinnert hier an menschliches Leben. Die Wände sind von Flammen rußschwarz gefärbt, einige kleine Knochen liegen in einer Ecke. Der Geruch legt sich direkt auf Kleider und Haut.
Es ist einer von drei Kellern des Stadtteils Cudi, das türkische Sicherheitskräfte stürmten - auf der Suche nach kurdischen Kämpfern. Mehr als 100 Menschen kamen bei den Operationen ums Leben. Die lokale kurdische Partei, DBP, sprach am Dienstag sogar von insgesamt 300 Toten während der Abriegelung. Bis alle Leichen gezählt sind, wird noch etwas Zeit vergehen. Auch bis staatliche und lokale Stellen den Streit über die genauen Vorkommnisse beilegen. Wie schwer die Stadt getroffen wurde, ist allerdings nicht zu übersehen.
Für 79 Tage war Cizre rund um die Uhr abgeriegelt. Erst am 1. März lockerte die türkische Regierung die Ausgangsperre in der Stadt - damit "die Sicherheit und Unversehrtheit der Zivilisten" garantiert ist, so die Begründung. Nun können sich die verbliebenen Einwohner während des Tages wieder frei bewegen. Nur so konnte auch wir zweimal in die Stadt gelangen - gemeinsam mit etlichen Rückkehrern auf der Suche nach ihren Habseligkeiten.
Brutale Kampagne
Die türkische Regierung riegelt seit sieben Monaten die mehrheitlich von Kurden bewohnten Städte im Südosten der Türkei ab. Cizre ist nur eine von vielen Städten, in denen das Militär tagelange Ausgangssperren verhängt. Mit diesen Maßnahmen will die Regierung gegen die Kämpfer der verbotenen Arbeiterpartei PKK vorgehen. Die offenen Kämpfe auf den Straßen erinnern an die Militäraktionen des türkischen Staates in den 1980er und 90er Jahren, bei denen bis zu 44.000 Menschen starben.
Abdullah Akan verschanzte sich in seinem Keller mit insgesamt 20 anderen. Glücklicherweise hätten die Einsatzkräfte das Gebäude nicht gestürmt. "Alles, was wir hier unten hören konnten, war das Geräusch der Bomben", sagt Akan. "Als unser Sohn das Haus verließ, haben ihn Scharfschützen erschossen", erzählt der Vater. "Sein Name war Ibrahim Akan und er war 16 Jahre alt. Wir mussten 26 Tage warten, bis wir seinen Leichnam holen durften", so Akan. "Wir haben unseren Jungen und unser Zuhause verloren - alles haben sie uns hier genommen."
"Wie im Zweiten Weltkrieg"
Die Straßen in Cizre sind unter Schutt begraben. In die Häuser ragen Löcher in der Größe von Lastwagen. Die mehrstöckigen Häuser sind komplett niedergebrannt. Die zurückgebliebenen Gemäuer sind leere Schalen, die ehemaligen Zimmer pechschwarz vom Feuer, grau, oder weiß von den Ascheresten.
Die Kämpfe konzentrierten sich vor allem auf vier Viertel, in denen die Straßenzüge besonders eng sind. Die der PKK nahe stehenden kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) konnten so den türkischen Sicherheitskräften ausweichen. Von den umliegenden Bergen schossen die Regierungstruppen mit schwerer Munition auf Gebäude.
"Drei Monate konnten wir nicht mehr zur Arbeit, aber wir sollten dennoch Steuern bezahlen", beklagt sich Selim Usta, der Besitzer eines kleinen Ladens. "Ich kann einfach nicht verstehen, wie ein Staat seine Bürger und Läden angreifen kann. Oder wie er anderen erlaubt, dies zu tun. (…) Unsere Türen wurden aufgebrochen, Diebe nahmen sich, was sie wollten." Es habe sich angefühlt wie im Zweiten Weltkrieg, so Usta.
Sicherheit und Unversehrtheit?
In den Krankenhäusern der Stadt arbeitete das Personal während der Abriegelung ununterbrochen. Viele mussten innerhalb des Gebäudes übernachten, weil sie ihre Häuser nicht mehr erreichten. "Überall waren Sicherheitskräfte", sagt eine Krankenschwester, die anonym bleiben möchte. "Sie kontrollierten die Krankenzimmer - sogar das Operationszimmer." Laut ihrer Aussage war es dem Personal verboten, Menschen zu behandeln, die die Sicherheitskräfte als Kämpfer verdächtigten. "Und bei einer Verwundung der Sicherheitskräfte mussten wir sie vor allen anderen behandeln."
Für die vielen Einwohner von Cizre haben die Kämpfe Schmerz und Leid gebracht. "Mein Ehemann ist körperlich behindert. Wir konnten deshalb kaum etwas aus dem Haus mitnehmen, weil wir ihn tragen mussten", sagt die 56-jährige Hanim Solmaz. "Die Kugeln sind uns förmlich um die Ohren geflogen. Ich hatte keine Zeit, meine Schuhe mitzunehmen. So bin ich barfuß mit meinen sieben Kindern geflohen." Solmaz hat alles verloren. Von der Sicherheit und Unversehrtheit, die der Staat versprochen hat, hat sie wenig mitbekommen.
"Als wir den Checkpoint erreichten, holte uns ein Krankenwagen ab, der uns ins nächste Dorf brachte. Dort sind wir bei einer Familie untergekommen", sagt sie. "Nun sind wir zurück und unser Haus ist zerstört, unsere Tiere sind getötet. Wir haben einfach nur noch Angst."
Tom Stevenson & Murat Bayram
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