''Bei uns geht es immer ums Ganze''
Der 50. Jahrestag der algerischen Unabhängigkeit löst bei algerischen Schriftstellern gemischte Gefühle aus. Boualem Sansal, Romanautor und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels war am 5. Juli 1962 zwölf Jahre alt und ging noch zur Schule. Er erinnert sich, dass er mit seinen Freunden an diesem Tag jubelnd durch die Straßen von Algier zog und tagelang nicht nach Hause zurückkehrte.
Doch in den Wochen zuvor hatte er auch erlebt, wie infolge des Waffenstillstands zwischen Frankreich und der Befreiungsfront FLN die sogenannten "Harkis" zwischen die Fronten gerieten: Einheimische, die – teilweise zwangsverpflichtet – für die französische Regierung oder das Militär gearbeitet hatten.
"Von unserem Balkon aus konnte man die Straße zum Hafen von Algier überblicken", erinnert sich Boualem Sansal.
"Einmal sah ich, wie eine Horde Männer eine junge Frau und ihren Verlobten angriffen. Es hieß, die beiden hätten als Dolmetscher für die französische Armee gearbeitet. Die Angreifer schleiften das Paar an den Haaren über die Straße, sie verletzten sie mit Messern und Schlägen. Alles war voller Blut. Der jungen Frau schoben sie einen Stock in den Hintern. Daran starb sie."
Die Schatten der Vergangenheit
Der Romanautor Wassini Laredsch aus Tlemcen war acht Jahre alt, als der Algerienkrieg zuende ging. Auch er erinnert sich, dass er mit seinen Geschwistern begeistert feierte und selbstgenähte algerische Fahnen schwenkte. Drei Jahre zuvor hatte er erleben müssen, wie sein Vater von französischen Soldaten festgenommen und zu Tode gefoltert wurde. Der brutale Verlust prägt den Schriftsteller bis heute.
"Für mich ist dieser Krieg eine sehr große Wunde", sagt Laredsch, der aktuell an der Universität Algier und an der Pariser Sorbonne Master-Studenten in Literatur unterrichtet. "Nahezu alles, was ich geschrieben habe, diente letztlich dem Zweck, über diese Verletzung hinwegzukommen."
Auch die Schriftstellerin Maissa Bey verlor ihren Vater durch den Befreiungskrieg. Die Familie lebte in einem Städtchen südwestlich von Algier. Der Vater war einer der wenigen Einheimischen, die im kolonialen Algerien den Lehrerberuf ausübten. Nach einer Denunziation wurde er vor den Augen der Familie verhaftet. Auf der Polizeiwache schlug man ihn während des Verhörs tot.
"Ich war erst sechs Jahre alt, und doch traten bereits Begriffe wie Krieg und Folter in mein Leben", erinnert sich Maissa Bey. "All das führte dazu, dass ich in eine virtuelle Welt abtauchte – die Welt der Literatur."
Die ausgeblendete eigene Schuld
Literatur als überschaubare Gegenwelt in einer von Gewalt und Chaos geprägten Wirklichkeit –Schreiben, um das persönliche und das kollektive Trauma zu bewältigen: Diese Konzepte sind in der algerischen Literatur seit der Unabhängigkeit sehr präsent. Eine Tendenz, die durch den politischen Kontext verstärkt wurde: Das offizielle Frankreich sah über Jahrzehnte keinen Anlass, sich wirklich mit den Gräueln des Algerienkrieges auseinanderzusetzen. Die eigene Schuld wurde ausgeblendet.
In Algerien verhinderten die Zensur unter dem Einparteienregime der FLN bis 1989 und später die staatlich verordnete Amnesie durch die Amnestiegesetze von 1999 und 2005, dass eine tiefergehende gesellschaftliche und politische Debatte über die kollektiven Gewalterfahrungen in Gang kam.
Was die Politik nicht leistete, übernahm die algerische Literatur – unter anderem der Lyriker Rachid Boudjedra, der seit den 1970er Jahren immer wieder die tiefenpsychologischen Wirkungen der Gewalt auslotete.
Assia Djebar, die sich in ihren Werken anfangs nur sporadisch mit den kollektiven Gewalterfahrungen auseinandersetzte, verfasste nach der Ermordung zahlreicher Intellektueller in den 1990er Jahren unter anderem ihr berühmtes poetisches Requiem "Weißes Algerien" und weitere Romane, in denen sie die Gräuel des Bürgerkrieges anprangerte.
Viele algerische Schriftsteller wählten in ihren Romanen und Kurzgeschichten die Groteske und die satirische Verfremdung, um das eigentlich Undarstellbare erzählen zu können – so der Romancier Wassini Laredsch in seinem Roman "Don Quichotte oder die Hüterin der Schatten" (auf Deutsch 2004 bei Lenos erschienen).
Exemplarisch für Literatur im Dienst der Traumabewältigung ist auch der Roman "Ausgeblendet", der 2002 in Frankreich veröffentlicht wurde und 2011 in deutscher Übersetzung im Verlag Donata Kinzelbach erschien. Die Autorin Maissa Bey beschreibt hier, wie sich auf einer Zugfahrt zufällig die Tochter eines zu Tode gefolterten Algeriers und ein ehemaliger französischer Soldat begegnen, der in Algerien stationiert war.
Appell für einen Dialog über die Vergangenheit
Im Lauf der Unterhaltung wird der Algerierin klar, dass ihr französisches Gegenüber direkt an der Ermordung ihres Vaters beteiligt war. Auch der Mann im Rentenalter scheint etwas zu ahnen. Doch keiner von beiden ist willens oder fähig, offen über die Tatsachen zu reden geschweige denn Gefühle auszudrücken. "Ausgeblendet" ist ein sehr menschlicher Appell an Franzosen und Algerier, in einen Dialog über die Vergangenheit zu treten.
Während die Mächtigen in Algerien bis heute eine ehrliche, unzensierte Aufarbeitung der Vergangenheit verhindern, versucht die algerische Literatur immer wieder Räume zu schaffen, um die kollektiven Verletzungen und Gewalterfahrungen zu bearbeiten. Das ist positiv.
Doch die starke Präsenz des Themenkomplexes Gewalt und Trauma hat auch einen Nachteil: Sie verstellt den Blick auf das, was die algerische Literatur sonst noch zu bieten hat.
Die algerische Literatur fasziniert zum einen durch ihren ungewöhnlichen Formenreichtum. Schon Kateb Yacine, einer der Begründer der modernen algerischen Literatur, hatte im Jahr 1956 seinen legendären Roman "Nedjma" als ein komplexes Verwirrspiel angelegt. Vielstimmigkeit, gebrochene Perspektiven, intertextuelle Bezüge, das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit sind seither ein Markenzeichen algerischer Romane.
Wo hört die Realität auf, wo beginnt die Literatur? Was bedeutet Erinnerung? Frappierend ist überdies der Themenreichtum des algerischen Literaturschaffens: Habib Tengours literarische Auseinandersetzungen mit Exil, Identität und kultureller Globalisierung sind in jeder Hinsicht Weltliteratur.
Maissa Bey schreibt nicht nur über den algerischen Befreiungskrieg und den Terror der 1990er Jahre. Von ihr stammen auch faszinierende Kurzgeschichten über Grenzerfahrungen zwischen Leben und Tod oder über Mutter-Tochter-Beziehungen (unter anderem in der Kurzgeschichtensammlung "Nachts unterm Jasmin", die 2010 auf Deutsch im Verlag Donata Kinzelbach erschien). Junge Autoren und Autorinnen wie Amara Lakhous, Kamel Daoud oder Kawthar Adimi beschreiben herrlich frisch und mit Humor den Alltag junger Algerier diesseits und jenseits des Mittelmeers.
"Bei uns geht es immer ums Ganze, um Leben und Tod", sagt der Romanautor Boualem Sansal. "Unser Thema ist die Gewalt, und wir schreiben eine gewaltsame Sprache."
Dass man am Jahrestag der Unabhängigkeit die mangelnde politische und gesellschaftliche Aufarbeitung der Gewalt in Algerien thematisiert, ist zweifellos angebracht. Doch die algerische Literatur verdient es, dass man sie in ihrer ganzen Fülle wahrnimmt, und nicht nur als künstlerisch verpackte Chronik des Zeitgeschehens.
Martina Sabra
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de