Das Land ohne Leser
Gute Geschichten, das lieben die Indonesier. Im kleinen Plausch mit den Nachbarn, in den Märchen, die im Puppentheater inszeniert werden, oder auch bei den landesweit populären Rezitationswettbewerben: Es wird erzählt und dargestellt, geredet und gedichtet. Zu Lyriklesungen kommen häufig hunderte Zuhörer. Die Dichter tragen dabei ihre Texte mit viel Pathos und großer Gestik vor. Bands vertonen die Verse, melancholisch, mystisch, verzaubernd. Teils über Jahrhunderte wurden manche Geschichten weitergetragen.
Eigentlich ist das Land also prädestiniert für die Aufgabe, die ihm im Herbst zuteil wird: Da ist Indonesien vom 14. bis 18. Oktober 2015 "Ehrengast der Frankfurter Buchmesse", dem großen Fest der Geschichten, der größten Handelsmesse für Bücher weltweit. Eigentlich.
Aber: Ein klassisches "Leseland" ist Indonesien nicht. So sehr Geschichten mündlich Teil des Alltags sind, so schwer haben sie es in gedruckter Form.
Es fehlt der Winter für "Krieg und Frieden"
An der Alphabetisierungsquote liegt das nicht: Rund 93 Prozent der Bevölkerung können lesen und schreiben. Und doch ist es ein Bildungsproblem: "Literatur, wie man sie im Westen kennt, wird in der Schule nicht unterrichtet. Schüler lernen zwar, wann Jane Austen gelebt hat - aber sie lesen meistens keines ihrer Bücher", sagt Verleger John McGlynn, der mit seiner Lontar Foundation indonesische Werke ins Englische übersetzt. "Deshalb ist es eigentlich erstaunlich, dass es hervorragende Autoren gibt. Denn wo sollen sie es gelernt haben? In der Schule sicherlich nicht."
Und auch nicht in der Gesellschaft, meint Goenawan Mohamad, Vorsitzender des Nationalen Komitees für Indonesien als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse: "Wir Indonesier sind eher gesellig und lieben eine gute Dosis Lärm. Außerdem haben wir natürlich keine langen Winter, in denen wir drinnen sitzen können, um etwa 'Krieg und Frieden' zu lesen."
Leichte Literatur, profitable Preise
Wie buchfern das Land ist, zeigen auch die Zahlen: Pro Jahr bringen die rund 1.400 indonesischen Verlage im Schnitt 24.000 Titel heraus. Zum Vergleich: Deutschland hat mehr Verlage, mehr Titel - und deutlich weniger Bürger. Pro Kopf werden in Deutschland gut zwölf Mal so viele Bücher pro Jahr verlegt.
Was auf den indonesischen Markt kommt, sind häufig einfache Bestseller-Übersetzungen aus dem Englischen. Denn die brächten den Verlagen das Geld, sagt John McGlynn. "Die auflagenstärksten Bücher - wenn man sie überhaupt so nennen will - sind aber Populär-Romane und solche mit religiösem Bezug: Eine Frau findet erst Gott und dann ihren Mann", kritisiert er. "Es werden zwar mehr und mehr Bücher verlegt, aber viele davon sind wirklich erbärmlich geschrieben."
Aber es gibt sie: die guten Autoren
Und doch ist Indonesien ein hervorragender Ehrengast, sagt Claudia Kaiser von der Frankfurter Buchmesse. Denn die Geschichte ist gut - voller Entdeckungen und Abenteuer. "Indonesien ist für uns in Deutschland weitgehend ein weißer Fleck auf der Landkarte. Es ist Zeit, dass wir uns ein bisschen orientieren, was hier so passiert", sagt Kaiser. Der Gastland-Auftritt soll einen Einblick gewähren in die Kultur Indonesiens mit seinen fast 250 Millionen Einwohnern, seinen 17.000 Inseln. Und er soll neugierig machen auf die Literatur.
Denn es gibt sie, die jungen, die frischen, die politisch interessierten Autoren, die gute Bücher schreiben. "Die literarischen Szenen - es gibt mehrere - sind sehr aktiv", bestätigt McGlynn. Bemerkenswert sei, dass viele Autoren gegen Dinge anschrieben, die auch dem Westen nicht gefielen: "Sie mögen Fundamentalisten nicht, egal welcher Religion. Sie mögen Sexisten nicht. Sie mögen Rassisten nicht. Und das mag ich."
Da ist zum Beispiel Lea Pamungkas, die während der Diktatur flüchtete und seitdem in den Niederlanden lebt. Eine Kurzgeschichte, in der Pamungkas erzählt, wie ein Sohn muslimischer Eltern zum Terroristen wird, wollten mehrere Zeitschriften nicht drucken. Also verteilte sie ihn unter Freunden und über das Internet. Oder die Dichterin Toeti Heraty, die mit spitzer Zunge die Situation der Frauen im Land beschreibt.
"Die indonesische Literatur ist etwas, das vorgetragen werden will. Man spürt das Orale in ihr", sagt Claudia Kaiser und schwärmt von der Poesie, den Kurzgeschichten und Romanen. "Die ganze Bandbreite ist da und hat häufig Weltklasse, wie der leider bereits verstorbene Pramoedya Ananta Toer oder auch Leila Chudori, Ayu Utami, Laksmi Pamuntjak und viele mehr."
In Leipzig überzeugten Tanz und Suppe
Um diese Autoren zu entdecken, muss man sie aber verstehen. Bislang gibt es jedoch nur wenige versierte Übersetzer. Und das Übersetzungsprogramm - Kern jedes Länderauftritts auf der Buchmesse - stockt. Brasilien begann mit seinen Übersetzungen drei Jahre vor der Buchmesse, Finnland nahm sich sogar sechs Jahre Zeit dafür. Und Indonesien? Erst im vergangenen Herbst genehmigte das indonesische Ministerium für Bildung und Kultur eine Million US-Dollar Fördergeld für Übersetzungen.
"Es wäre besser gewesen, wenn das Programm mindestens zwei Jahre früher ins Leben gerufen worden wäre", kritisiert Claudia Kaiser. Goenawan Mohamad, Chef des Nationalen Komitees und selbst Autor, wird im Gespräch sogar noch deutlicher: "Wir hätten damit vor mindestens zehn Jahren beginnen müssen, aber Indonesien war nie ein vorausschauendes Land. Jetzt ist das eines unserer größten Hindernisse."
Rund 200 Titel werden im Herbst vorliegen, hoffen die Organisatoren, davon Schätzungen zufolge zwischen zwanzig und dreißig auf Deutsch. Bei der Leipziger Buchmesse Mitte März kam das indonesische Angebot bereits gut an. Oft war der Stand umringt von Besuchern, denn es gab Suppe und Tanz - und auch das eine oder andere Buch für die Leser.
Monika Griebeler
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