Was kostet die Versöhnung?
Nach fast einem Jahr angespannter Beziehungen hat der "stille Krieg“ zwischen Madrid und Rabat mit dem Besuch des spanischen Premierministers Pedro Sanchez in Marokko im April ein Ende gefunden. Beide Parteien vereinbarten einen Fahrplan zur Beilegung ihrer Konflikte.
Nach dem diplomatischen Erfolg Marokkos in der Westsaharafrage nahmen die beiden Länder ihre normalen Beziehungen wieder auf. Spanien hat zum erste mal seit seinem Rückzug aus der Region vor 47 Jahren angekündigt, seine offizielle Position zum Westsaharakonflikt grundlegend zu verändern. Madrid spielt eine zentrale Rolle im Konflikt, es ist neben Frankreich, den USA, Großbritannien und Russland Mitglied der Gruppe der "Freunde der Westsahara“ und war zudem von 1884 bis 1975 dessen Kolonialmacht.
Vor einigen Wochen legte der spanische Premierminister die neue Position seiner Regierung in einem Schreiben an König Mohammed VI. von Marokko dar. Darin wurde die von Marokko 2007 vorgeschlagene Lösung für die Westsahara als einer autonomen Region innerhalb von Marokko die "ernsthafteste, realistischste und glaubwürdigste Grundlage für eine Lösung des Westsaharakonflikts“ bezeichnet.
Spanien vollzieht somit eine radikale Kehrtwende. Als ehemalige Kolonialmacht der Westsahara erkennt es damit implizit an, dass das Gebiet an seinen rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben wurde. Spanien hatte sich als europäisches Land zur Neutralität gegenüber beiden Konfliktparteien verpflichtet, wobei es sich bisher tatsächlich aber nicht neutral verhielt. Erst vor einigen Monaten hatte Madrid den Anführer der Befreiungsbewegung Frente Polisario unter falscher Identität in einem spanischen Krankenhaus aufgenommen. Brahim Ghali war mit gefälschtem Personalausweis und Reisepass eingereist.
Zwischen Algerien und Marokko
Die Versöhnung Madrids mit Marokko löste eine diplomatische Krise mit Algerien aus. Algerien nannte die spanische Kehrtwende einen "zweiten Verrat an den Sahrauis“ und rief den algerischen Botschafter zu Beratungen aus Madrid zurück. Algerien unterhält enge Geschäftsbeziehungen zu Spanien, das mehr als ein Drittel seines Erdgases aus dem nordafrikanischen Land bezieht. Damit ist es nach Italien und Frankreich der drittgrößte Abnehmer von algerischem Gas. Das gibt Algerien gegenüber Madrid ein empfindliches Druckmittel an die Hand. Erst jüngst hatte Spanien, wie auch andere europäische Länder, versucht, seine Abhängigkeit von russischem Gas weiter zu verringern, indem es mehr Gas aus Algerien bezieht.
Details über die Vereinbarung mit Marokko sind bislang nicht bekannt geworden. Noch rätseln Medien und Kommentatoren in Rabat und Madrid über den genauen Inhalt des Briefes von Premierminister Sanchez an den marokkanischen König und die Einzelheiten der gemeinsamen Erklärung. Sie war nach den Gesprächen von Sanchez mit König Mohammed VI. zustande gekommen. Sanchez war der erste europäische Amtsträger überhaupt, der seit Ausbruch der Coronavirus-Pandemie im Jahr 2020 in Marokko offiziell empfangen wurde.
Viele Beobachter bringen Spaniens Kehrtwende mit dem russischen Überfall auf die Ukraine in Verbindung. Madrids neue Unterstützung für Marokkos Vorschlag zur Selbstverwaltung der Westsahara gilt für sie als eine Reaktion darauf, dass Algerien die Bitte der US-Regierung um Erhöhung seiner Gasförderung zur Deckung des europäischen Bedarfs abgelehnt hat. Auch die Wiederinbetriebnahme der durch Marokko laufenden Maghreb–Europa-Gaspipeline, die algerisches Gas nach Spanien und Europa bringt, fällt in diesen Kontext. In dieser Perspektive folgte der Wandel der spanischen Position unmittelbar auf die Besuche von US-Vizeaußenministerin Wendy Sherman in Marokko, Spanien und Algerien.
Ceuta und Mellila: "so marokkanisch wie die Westsahara"
Es spricht allerdings einiges dagegen, dass Washington involviert war. Während der Präsidentschaft von Donald Trump hatten die USA beschlossen, Marokkos Anspruch auf die Westsahara anzuerkennen, wenn Marokko im Gegenzug seine Beziehungen zu Israel normalisiert. Doch die Biden-Regierung verfolgt eine eher zurückhaltende Linie im Konflikt um die Westsahara. Die USA waren zudem darüber verstimmt, dass Marokko als einer seiner engsten Verbündeten in Nordafrika nicht an der UN-Vollversammlung zur Verurteilung der russischen Invasion in der Ukraine teilnahm und somit die Position der Vereinigten Staaten bei der Abstimmung nicht unterstützte.
Einige Indizien deuten eher darauf hin, dass die Vereinbarung allein eine Angelegenheit zwischen Rabat und Madrid ist. Wahrscheinlich wurde sie schon einige Monate vor Beginn des Ukraine-Krieges angebahnt. Bereits in seiner Rede zur "Revolution des Königs und des Volkes“ am 20. August 2021 sprach König Mohammed VI. von einer neuen Ära in den Beziehungen zwischen Marokko und Spanien. Zu diesem Zeitpunkt war offenbar schon der Grundstein für die neue spanische Position gelegt. Eine solche Wende geschieht nicht über Nacht. Vielmehr ist sie das Ergebnis monatelanger Abstimmungen und Konsultationen über strittige Fragen zwischen den beiden Parteien abseits der Öffentlichkeit.
Die Kernbotschaft der gemeinsamen Erklärung, wie das Bekenntnis, über "gemeinsame Verpflichtungen beider Länder“ zu sprechen, "auf alle einseitigen Maßnahmen zu verzichten“, und "vereinte Anstrengungen zur Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen“ zu unternehmen, verweist auf die Gründe für den Sinneswandel Spaniens in der Westsaharafrage. Schließlich hatte Madrid vorher den Widerstand in der Europäischen Union gegen die Anerkennung der marokkanischen Ansprüche durch die Regierung Trump in der Westsahara geschürt. Umso mehr erstaunte dann die öffentliche Unterstützung für den marokkanischen Vorschlag einer Selbstverwaltung unter seiner Aufsicht.
Marokko zieht die katalanische Karte
Einen ersten Hinweis auf die Gründe für die Vereinbarung liefert eine Pressekonferenz, in der Premierminister Sanchez nach seinem Gespräch mit König Mohammed VI. in Rabat erklärte: "Es kann keinen Zweifel an der Souveränität in Bezug auf das spanische Staatsgebiet geben. Und das schließt Ceuta und Melilla ein“. Auffällig ist, dass die marokkanischen Medien nicht über Sanchez‘ anschließenden Besuch in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla berichteten.
Das lässt vermuten, dass sein dortiger Zwischenstopp Teil der Vereinbarung zwischen beiden Ländern war. Weiter erhärtet wird dieser Eindruck, wenn man bedenkt, wie Rabat seinen Anspruch auf die beiden spanischen Exklaven in den letzten Jahren mehrfach thematisiert hat. So löste der frühere marokkanische Premierminister Saadeddine Othmani eine diplomatische Krise aus, als er in einem Interview davon sprach, die beiden Gebiete seien "so marokkanisch wie die Westsahara“.
Rabat hat alle Register gezogen, um den Druck auf Madrid zu erhöhen, in Fragen der Einwanderung, bei der Zusammenarbeit der Sicherheitskräfte oder bei der Grenzschließung. Spanische Zeitungen berichteten, dass sich Rabat sogar in die Katalonien-Frage einmischt und dort die separatistische Karte ausspielt. Auslöser für diese Vermutungen war die Äußerung von Victória Alsina, Leiterin der katalanischen Behörde für Äußeres und Open Government, man warte auf eine Reaktion der marokkanischen Behörden, nachdem Barcelona beschlossen hatte, die Vertretung der Region Katalonien in Nordafrika von Tunesien nach Marokko zu verlegen.
Vom Preis für eine Versöhnung zwischen Rabat und Madrid abgesehen, stellt sich eine grundsätzliche Frage, die in der Euphorie über den "diplomatischen Sieg“ Marokkos derzeit nicht erörtert wird: Welche Garantien gibt es, dass die Inhalte der Vereinbarung zwischen beiden Ländern auch umgesetzt werden? Oder anders gefragt: Ist es der spanische Staat, der den Anspruch Marokkos auf die Westsahara anerkennt oder nur die aktuelle Regierungspartei?
Während Sanchez in Rabat weilte, kritisierte das Parlament die Regierung, weil sie die historisch neutrale Position Spaniens in der Westsaharafrage aufgegeben habe. Die spanischen Parteien, so auch Sanchez‘ Koalitionspartner Podemos, widersetzten sich der Neupositionierung der Regierung zur Westsahara und drohten, den außenpolitischen Konsens Spaniens zu beenden.
© Qantara.de 2022
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers
Übersetzt aus dem Arabischen ins Englische von Chris Somes-Charlton