„Der politische Wille fehlt“
Transparency Maroc, der marokkanische Ableger von Transparency International, feiert in diesem Jahr den 20. Jahrestag seiner Gründung und den 15. Jahrestag der offiziellen Zulassung in 2001. Welches sind für Sie die wichtigsten Errungenschaften?
Azzedine Akesbi: Für uns und die anderen Organisationen, die in Marokko zum Thema Korruption arbeiten, ist das Wichtigste, dass die Korruption heute nicht mehr geleugnet, sondern von der Öffentlichkeit als ein ernsthaftes Problem für die Entwicklung des Landes angesehen wird.
Die marokkanische Regierung hat Anfang 2016 einen nationalen Plan zur Bekämpfung der Korruption verabschiedet. Bis 2025 sollen jedes Jahr rund 18 Millionen Euro investiert werden. Erklärtes Ziel ist es, Marokkos internationales Ranking beim Index zur Korruptionswahrnehmung (CPI) und beim Geschäftsklima zu verbessern. Was erwarten Sie?
Akesbi: Die Regierung versucht, mit entsprechenden Institutionen und Strategien zur Eindämmung der Korruption beizutragen. Wir halten die bisherigen Maßnahmen aber für wenig effektiv und auch die aktuelle Strategie ist nach unserer Auffassung nicht wirksam.
Woran machen Sie Ihre Kritik fest?
Akesbi: Wir haben viel Austausch auf internationaler Ebene betrieben und verfügen sowohl über das technische Wissen als auch die nötigen Fachkräfte, um gezielt gegen Korruption vorzugehen. Dennoch hat sich kaum etwas geändert. Als im Jahr 2011 die Bewegung des 20. Februar auf die Straße ging, war Korruption das zentrale Thema. Die Menschen klagten über Misswirtschaft in allen Bereichen: Justiz, Bildung, Gesundheit.
Die regierende islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung PJD (Parti de la justice et du développement), die bei den Wahlen 2011 über ein Viertel aller Stimmen holte, hatte in ihrem Wahlkampf die Korruption in den Mittelpunkt gestellt. Sie stellt seit 2011 den Premierminister. Mittlerweile gibt auch die PJD zu, dass sie gegen die Korruption nichts hat ausrichten können.
Warum verfehlen die Maßnahmen ihre Wirkung?
Akesbi: Echte Reformen müssen auf höchster Ebene, bei der Zentralmacht beginnen. Doch dort fehlt der politische Wille. Laut aktuellen Rankings, ob Human Development Index oder Index zur Korruptionswahrnehmung (CPI), hat sich die Situation in Marokko nicht verbessert, sondern verschlechtert.
Im Jahr 2015 machten zwei prominente französische Journalisten Schlagzeilen: Catherine Graciet und Eric Laurent gaben zu, dass sie vom marokkanischen Königshaus rund zwei Millionen Euro Schweigegeld akzeptiert und dafür ein kritisches Buchprojekt gestoppt hatten. Welche Reaktionen hat diese Affäre in Marokko ausgelöst?
Akesbi: Die meisten Leute waren erschüttert, dass zwei prominente Journalisten ihren Ruf auf diese Weise ruinieren. Die beiden haben der Glaubwürdigkeit von Journalisten und unabhängigem Journalismus in Marokko sehr geschadet. Das ist dramatisch.
Ohne Dezentralisierung geht es nicht
Kommen wir zur aktuellen Entwicklung. Die Verfassung von 2011 enthält einige Elemente, die den Rahmen für die Korruptionsbekämpfung verbessern könnten, wie den Artikel 27, der das Recht auf Zugang zur Information über öffentliche Angelegenheiten festschreibt.
Akesbi: Ja, das ist in der Tat ein Fortschritt, aber die bisherigen Rahmengesetze streben danach, dieses verfassungsmäßige Recht wieder einzuschränken. Der aktuell im Parlament anhängige Gesetzentwurf sieht viele Ausnahmen vor, die nicht internationalen Standards entsprechen. Doch soweit ich sehe, wird er ohne weitere Änderungen verabschiedet werden.
In der Verfassung von 2011 ist auch festgeschrieben, dass die Regionen gegenüber der Zentralmacht aufgewertet und gestärkt werden sollen. Im Herbst 2015 wurden die sogenannten Regionalräte zum ersten Mal direkt gewählt. Haben Sie den Eindruck, dass die neu geschaffenen, gewählten Institutionen mehr Transparenz und mehr Raum für Mitsprache garantieren?
Akesbi: Dezentralisierung ist ein absolutes Muss, auf allen Ebenen. Aber meiner Meinung nach sind zur Zeit weder das Gesetz noch die vorgesehenen Umsetzungsmechanismen ausgereift. Unser Modell ist immer noch sehr zentralistisch. Wenn die neuen Gremien tatsächlich eigene Budgets erhalten sollen, dann brauchen wir Fortbildungen für die Beamten und Schutzmechanismen, um einen Missbrauch der öffentlichen Güter zu verhindern.
Nehmen wir den Sektor Bildung: An einer öffentlichen Schule kann ein Schulleiter in Marokko heute kaum Einfluss auf die Einstellung der Lehrkräfte nehmen. Das führt dazu, dass viele Lehrer einfach nicht im Unterricht erscheinen. Stattdessen erteilen staatlich bezahlte Lehrkräfte zuhause teure Nachhilfestunden, um ihr Gehalt aufzubessern. Das Phänomen hat in den letzten Jahren sehr zugenommen. Im Bildungssektor gibt es auch hohe Verluste aufgrund von Korruption bei Beschaffung und Infrastrukturmaßnahmen. Wir brauchen endlich Mechanismen, die es erlauben, die Akteure auf allen Ebenen zu beteiligen, sie aber auch zur Verantwortung zu ziehen.
Am 7. Oktober 2016 sind die Marokkanerinnen und Marokkaner aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Was erwarten Sie? Einen Politikwechsel oder zumindest neue Impulse?
Akesbi: Von 23 Millionen wahlberechtigten Marokkanern sind insgesamt 13 Millionen registriert. Von diesen geben rund fünf Millionen ihre Stimme ab und von diesen wiederum enthalten sich 1,5 Millionen. Damit kann man die Bevölkerung nicht wirklich für eine Veränderung mobilisieren.
Angesichts dieser Zahlen und angesichts des aktuellen Aufbaus der Institutionen bin ich skeptisch, dass es grundlegende Änderungen geben wird.
Warum werden die marokkanischen Wahlberechtigten nicht automatisch registriert?
Akesbi: Möglich wäre das. Aber wenn das Innenministerium alle Wahlberechtigten automatisch registrieren würde, dann würde sich ein sehr hoher Prozentsatz enthalten oder gar nicht zur Wahl gehen. Sie würden nicht in die Wahllokale kommen, weil sie nicht sehen, dass sie mit ihrer Wahl ein System an die Macht bringen können, das ihren Erwartungen entspricht.
Interview: Martina Sabra
© Qantara.de 2016