Keine Freiheit, keine Presse
Ein Istanbuler Gericht brauchte nur wenige Stunden, um ohne Begründung die Beschlagnahme der auflagenstärksten türkischen Zeitung Zaman anzuordnen und einen Treuhänder mit deren Geschäftsführung zu beauftragen. Möglich wurde diese Entscheidung durch die Anti-Terrorgesetze der Türkei, die eine Beschlagnahmung von Unternehmen oder Vermögenswerten schon aufgrund des Verdachts auf Terrorismusunterstützung zulassen.
"Das war nur eine Frage der Zeit. Irgendwie haben wir zwar damit gerechnet, aber es war dennoch schockierend", sagt Sevgi Akarçeşme, Chefredakteurin der englischsprachigen Ausgabe Today’s Zaman, die ebenfalls beschlagnahmt wurde. "Alle autoritären Regierungen benutzen dieselben Methoden und Mittel. Mit dem Hinweis auf terroristische Umtriebe werden Opposition und Medien mundtot gemacht: Diese Regierung verhält sich genauso."
Die türkische Tageszeitung Zaman steht der Bewegung des islamischen Religionsführers Fethullah Gülen nahe. Der ehemalige Verbündete von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seiner Regierungspartei AKP ist heute ein erklärter Gegner Erdoğans. Gülen lebt heute im selbst gewählten Exil in den USA. Der Bruch zwischen beiden Männern wurde im Dezember 2013 öffentlich, als Polizei und Staatsanwaltschaft einen groß angelegten Korruptionsskandal auf höchster Ebene aufdeckten, in den Familienangehörige hoher Minister sowie des Präsidenten verwickelt waren.
"Geheimes kriminelles Netzwerk"
Präsident Erdoğan stellt das als einen versuchten Staatsstreich der Anhänger Gülens dar. "Das sind keine Medien. Das ist ein geheimes kriminelles Netzwerk", schrieb die Kolumnistin Saadet Oruç zur Rechtfertigung der Beschlagnahme von Zaman in der regierungstreuen Zeitung Sabah. Gülen-Anhänger werden von den staatlichen Behörden heute als Mitglieder der sogenannten "Fethullah-Terror-Organisation" (FETO) eingestuft.
Ein Whistleblower aus dem Kreis des Präsidenten mit Namen Fuat Avni hatte die Beschlagnahmung von Zaman bereits angekündigt. Avni twitterte wenige Tage zuvor, Erdoğan habe die Beschlagnahmung persönlich angeordnet.
Premierminister Ahmet Davutoğlu verteidigte die Aktion als eine "rechtmäßige, nicht politische Maßnahme" und stellte klar, dass "es weder für mich noch für einen meiner Kollegen in Frage kam, in dieses Verfahren einzugreifen." Die wundersame Verwandlung von Zaman nach der Beschlagnahmung macht diese Argumentation wenig glaubhaft.
Innerhalb von 48 Stunden mutierte die Zeitung vom erbitterten Kritiker zum Unterstützer des Präsidenten. Das Titelblatt zeigte Erdoğan neben seinem Prestigeprojekt – der fast fertiggestellten dritten Bosporus-Brücke. Eine ähnliche Metamorphose haben bereits die Zeitung Bugün und der Fernsehsender KanalTurk hinter sich. Die beiden ebenfalls mit der Gülen-Bewegung verbundenen Unternehmen wurden im Oktober letzten Jahres beschlagnahmt.
Unermüdliche Einschüchterungspolitik
Die schnelle und weithin als willkürlich empfundene Beschlagnahmung von Zaman sendet eine deutliche Botschaft an die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien. "Es gibt nur noch eine Handvoll unabhängiger Medien", meint Prof. Cengiz Aktar, Politikwissenschaftler an der Istanbuler Süleyman-Şah-Universität, "doch diese stehen nach der Inhaftierung des Chefredakteurs der Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, unter starkem Druck der Regierung. Dündar verbrachte drei Monate in Haft. Seit seiner Freilassung ist der Druck nicht schwächer geworden."
Ihm und seinem Kollegen Erdem Gül als Leiter des Hauptstadtbüros drohen 35 Jahre Haft wegen der Veröffentlichung eines Artikels, in dem sie über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an radikale Islamisten in Syrien berichteten. Erdoğan höchstpersönlich drohte daraufhin beiden Journalisten mit strenger Bestrafung. Der Zugriff der Staatsanwaltschaft ließ nicht lange auf sich warten.
Allerdings entschied das Verfassungsgericht, dieses Vorgehen verletze das Recht auf freie Meinungsäußerung. Beide Journalisten wurden aus der Untersuchungshaft entlassen. Doch der Prozess wird Ende März fortgesetzt werden. In einer öffentlichen Erklärung drohte Erdoğan dem Verfassungsgericht: "Ich werde weder der Entscheidung Folge leisten, noch erkenne ich sie an".
"Auf dem Weg zu einem autoritären Regierungssystem"
Um Kritiker zum Schweigen zu bringen, greifen Strafverfolger zunehmend auf die laut Gesetz strafbare Präsidentenbeleidigung zurück. Mittlerweile wurde in nahezu 2.000 Fällen Anklage erhoben. Sogar Schulkinder sind betroffen. Journalisten sind jedoch weiter das Hauptziel. "Alle Entwicklungen der letzten Monate zeigen, dass die Türkei auf dem Weg zu einem autoritären Regierungssystem ist", sagt Emma Sinclair-Webb, Türkei-Expertin bei Human Rights Watch. "Erdoğan und die AKP wollen die Exekutive von allen demokratischen Kontrollmechanismen befreien."
Da viele der wichtigsten Medien des Landes unter Kontrolle der Regierung stehen oder eine Art Selbstzensur ausüben, erleben alternative und auch soziale Medien einen lebhaften Aufschwung. So ist Mediascope zu einer beliebten politischen Diskussionsplattform im Netz geworden. Hier schreiben viele Journalisten und Autoren, die bei der Regierung in Ungnade fielen und so ihren Job verloren. Doch auch im Cyberspace werden die Freiräume enger.
Mit Zuckerbrot und Peitsche konnte die Regierung mehr Tweets erfolgreich löschen als in jedem anderen Land. Bei der Anzahl der gesperrten Media Sites liegt die Türkei nach China und dem Iran an dritter Stelle. Bis zu einem Tweet, der dem Präsidenten missfiel, war Kadri Gürsel ein führender Kolumnist der auflagenstarken türkischen Tageszeitung Milliyet. Zur Lage der Türkei sagt er: "Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird die Türkei auseinanderbrechen. Dies ist die Logik der Dynamik. Die Türkei wird im Chaos versinken."
Im Inland wie im Ausland: Die türkische Regierung braucht offenbar keine Widerstände zu fürchten. Das zeigt der klare Sieg in den Parlamentswahlen vom November letzten Jahres ebenso wie die momentan zentrale Rolle bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise.
Die Verhandlungspartner aus der EU umwerben ihre türkischen Gesprächspartner geradezu devot. Die einst auf Eis gelegte Aufnahme der Türkei in die EU steht wieder auf der Tagesordnung. "Es ist einfach lächerlich, über den Beitritt eines solchen Landes in die Europäische Union zu reden. Das ist ein Witz", stellt Cengiz Aktar unmissverständlich klar.
Europäische Heuchelei
Ankara ist sich seiner Sache offenbar sehr sicher, denn die Beschlagnahmung von Zaman fand nur wenige Tage vor dem EU-Gipfel zu Gesprächen mit der Türkei über eine Lösung der Flüchtlingskrise statt. Während sich der Europarat besorgt zu den Übergriffen auf die freie Presse äußerte, blieb die EU weitgehend stumm. "In meinen Augen verrät die EU ihre eigenen Grundsätze", meint Soli Özel, Professor für internationale Beziehungen an der Istanbuler Kadir-Has-Universität. "Die Flüchtlingskrise macht deutlich: Heuchelei ist die Regel. Das Festhalten an Grundsätzen eher die Ausnahme. Wir sind auf uns selbst gestellt und werden unsere Probleme selbst lösen müssen."
Zur Reaktion der EU erklärt die mittlerweile untergetauchte Sevgi Akarçeşme: "Das ist eine bittere Enttäuschung. Ich wüsste nicht, wer die Europäer noch ernst nehmen sollte, wenn sie künftig über Werte reden." Nach eigener Auskunft ist die Zukunft für sie und ihre Kollegen mehr als ungewiss: "Allen führenden Redakteuren droht mittlerweile die willkürliche Verhaftung."
Dorian Jones
© Qantara.de 2016
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers