Das Freiluft-Gefängnis für Kritiker
An einem Freitag kurz vor Sonnenaufgang sollte sich das Leben von Amal Fathy und ihrem Ehemann Mohamed Lotfy für immer verändern. Am 11. Mai vergangenen Jahres kümmerte Amal sich gerade um ihren kleinen Sohn, als Mohamed jemanden an der Tür klopfen hörte. Draußen stand ein Sicherheitsbeamter in Zivil mit einer Gruppe schwerbewaffneter maskierter Spezialeinsatzkräfte.
Mohamed ließ sie herein und bat sie, sich zu setzen. "Der Zivilbeamte nahm sich einen Stuhl am Esstisch", erinnert sich Mohamed. "Er sagte zu mir: 'Sie werden schon wissen, warum wir hier sind.'"
Mohamed Lotfy dokumentiert Menschenrechtsverletzungen für seine Organisation, die Egyptian Commission for Rights and Freedoms (ECRF). Doch es war Amal Fathy, die in Gefahr war - obgleich sie nichts anderes gemacht hatte, als in den sozialen Netzwerken ein Video hochzuladen, indem sie sich darüber beschwerte, in einer Bank sexuell belästigt worden zu sein. Das Video hatte sich blitzschnell verbreitet und regierungstreue lokale Medien begannen, gegen die politische Aktivistin und ehemalige Schauspielerin Amal zu hetzen.
Dennoch, sagt ihr Mann, hätte er "nicht damit gerechnet, dass sie festgenommen wird". Die Beamten forderten das Ehepaar auf, sie zur Polizeiwache zu begleiten. Vor ihrem Wohnhaus wartete ein weiteres Dutzend maskierter und bewaffneter Spezialkräfte, die aussahen, als wollten sie Schwerkriminelle festnehmen.
Willkür und drakonische Strafen
Amal Fathy kam in Untersuchungshaft und wurde mit zwei Anklagen konfrontiert: Zum einen bezichtigte die ägyptische Staatssicherheit die Aktivistin "falsche Nachrichten" sowie ein "unanständiges Video" in "schmutziger Sprache" verbreitet zu haben. Zum anderen wurde ihr vorgeworfen, einer terroristischen Gruppe anzugehören, die die nationale Sicherheit untergrabe.
Um welche terroristische Gruppierung es sich dabei angeblich handeln sollte und welche konkreten Beweise gegen Amal vorliegen sollten, erfuhren die beiden nicht. Sie erhielten auch keinerlei Akteneinsicht", berichtet Mohamed Lotfy.
Amal Fathys Inhaftierung traf ihn und seine ganze Familie hart. "Fast drei Monate lang war ich nicht ich selbst", erinnert sich ihr Mohamed Lotfy. "Ich konnte nicht mal eine Stunde stillsitzen. Ich war hyperaktiv und nervös und musste mich die ganze Zeit davon ablenken, dass meine Frau in Haft war und dass ich nichts tun konnte." Wenn der gemeinsame Sohn, der damals drei Jahre alt war, fragte, wo seine Mutter sei, erklärte er dem Kind stets: im Krankenhaus.
Im September 2018 legte die 34-Jährige Widerspruch gegen das Urteil ein und zahlte die ihr auferlegte Strafe und Kaution. Doch erst Ende Dezember wurde sie auf Bewährung entlassen. Nur drei Tage später wurde das Urteil gegen sie bestätigt. Die zweite Klage wegen angeblicher Zugehörigkeit zu einer Terrorgruppe ist jedoch nach wie vor anhängig. Die Angst ist daher groß, dass Amal womöglich wieder verhaftet werden könnte. Auch steht sie nach wie vor unter Hausarrest, die exakten Bestimmungen der Bewährungsstrafe sind unklar.
Menschenrechte im Würgegriff
Amals Leidensweg ist kein Einzelfall. Heute sind schätzungsweise 60.000 Personen in Ägypten aufgrund politischer Anklagen inhaftiert, so die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Gleichzeitig bestreiten Präsident Abdel Fattah al-Sisi und die Behörden regelmäßig, dass es in Ägypten politische Gefangene gibt.
Auch eine Haftentlassung bedeutet nicht notwendigerweise Freiheit, vor allem in Fällen von Meinungsfreiheit. In diesem Jahr wurden sowohl der preisgekrönte Fotograf Mahmoud Abu Zeid, der sich Shawkan nennt, als auch der bekannte Aktivist Alaa Abdel-Fattah nach fünf Jahren im Gefängnis entlassen – doch auch sie müssen weitere fünf Jahre jede Nacht auf der Polizeiwache verbringen.
In einem Bericht hatte Amnesty International dem Regime in Kairo vorgeworfen, es habe Ägypten in ein "Freiluftgefängnis für Kritiker" verwandelt. 2018 nahmen die ägyptischen Behörden mindestens 113 Personen unter fadenscheinigen Behauptungen fest, berichtet die Menschenrechtsorganisation, zum Beispiel wegen Satire oder Tweets, wegen der Unterstützung von Fußballvereinen, wegen des Anprangerns sexueller Belästigung, der Bearbeitung von Filmen und Interviews. In einigen Fällen hätten die Festgenommenen auch gar nichts von alledem getan. Dennoch wurden sie von Behörden der 'Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung' und der 'Verbreitung falscher Nachrichten'" bezichtigt, so die Menschenrechtsorganisation.
Leben in permanenter Unsicherheit
Das Leben außerhalb der Mauern des berüchtigten Qanater-Gefängnisses stellt eine besondere Form der Bestrafung für die Familie dar. Die Bedingungen für Amals Bewährung erforderten zunächst, dass sie jeden Samstagabend unter Hausarrest bleibt und sich bei einer Polizeiwache in der Nähe der Wohnung der Familie meldet. Die Polizeidirektion von Gizeh hob dann jedoch die Forderung auf, dass Amal unter Hausarrest bleiben sollte, und änderte ihre Bewährungsaufforderung auf jeweils zwei vierstündige Besuche bei der Polizeiwache pro Woche. "Doch die Polizeidirektion hat die für Amal zuständige Polizeistation nie über diese Änderung instruiert", berichtet Lotfy. Es sei schon kafkaesk: Sowohl Inhaftierte als auch ehemalige Gefangene verfingen sich gleichermaßen in einem Netz der Bürokratie.
Die familiäre Situation sei daher überaus belastend. Amal hänge völlig in der Schwebe, beklagt Mohamed Lotfy. "Sie ist mit einer Klage konfrontiert, über die bislang noch immer nicht entschieden worden ist, aber jederzeit entschieden werden könnte. Und sie wird mit einer Bewährungsstrafe und Auflagen konfrontiert, die sich widersprechen."
"Wir können auch nicht so einfach aus dem Haus gehen, denn Amal fürchtet, sie könnte an einem Checkpoint angehalten und wieder inhaftiert werden. Ich rufe sie dauernd an, weil ich fürchte, dass Polizisten kommen, um ihren Hausarrest zu kontrollieren. Und wenn sie sich bei der Polizei meldet, haben wir Angst, dass sie wieder in Gewahrsam genommen wird", sagt Mohamed Lotfy. Ihre Anwälte haben Einspruch gegen das Urteil zu dem Video eingelegt und um eine Begnadigung durch den Präsidenten ersucht. Aber das könnte eine Wiederaufnahme des Verfahrens bedeuten - und das Risiko weiterer Haft beinhalten.
"Sie kann ihr Leben nicht planen", klagt ihr Mann. "Sie ist immer noch angeklagt, sie kann jederzeit wieder festgenommen und verurteilt werden." Das wirkt sich auch auf Mohamed Lotfys eigene Arbeit für Menschenrechte aus. Als Mitgründer der Egyptian Commission for Rights and Freedoms stellt er beispielsweise Nachforschungen zu Personen an, die der ägyptische Staat verschwinden lässt.
"Ich war 15 Jahre lang in der Menschenrechtsarbeit aktiv, bevor Amal verhaftet wurde", sagt Mohamed Lotfy. "Ich habe dauernd über schwierige Geschichten berichtet und Folter dokumentiert. Aber ich habe nie wirklich das Leiden der Angehörigen verstanden, ich habe immer mehr an die Opfer gedacht. Erst als ich es selbst erleben musste, habe ich gemerkt, wie verheerend das ist."
Ruth Michaelson
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