Monokultur war gestern
In Deutschland können Dinge gesagt werden, die noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen wären. Menschen, die nicht typisch deutsch aussehen, werden von Politikern zu potenziellen Kriminellen erklärt; die Tatsache, ein Einwanderungsland zu sein, wird wieder infrage gestellt.
Die Debatte über den ehemaligen Nationalspieler Mesut Özil hat gezeigt, wie schwer wir uns damit tun, Menschen ohne Wenn und Aber als Deutsche zu akzeptieren, selbst, wenn sie in Deutschland aufgewachsen sind. Die Migration, hat Bundesinnenminister Horst Seehofer gesagt, sei die "Mutter aller politischen Probleme". Er trifft die Stimmungslage vieler Bürger.
Da ist sie wieder, die "völkische" Idee der deutschen Nation als Abstammungsgemeinschaft. Richtig verabschiedet hat sich die Politik von dieser Vorstellung ja nie ganz: Wer in Kasachstan oder anderswo im ehemaligen kommunistischen Ostblock geboren wurde und deutsche Vorfahren besitzt, darf als Deutscher nach Deutschland zurückkehren, auch wenn die Vorfahren vor Jahrhunderten ausgewandert sind. Die Definition der Aussiedler und Vertriebenen als "Volksdeutsche" praktiziert ganz ungeniert das Modell der völkischen Nation. Es ist gut, dass diese Menschen Starthilfen erhalten haben und freundliche amtliche Akzeptanz. Bei den anderen Einwanderern aber wurde das leider versäumt.
Die deutsche Gesellschaft ist eine Einwanderungsgesellschaft geworden. Diese Entwicklung lässt sich nicht mehr zurückschrauben - kein noch so rechtsradikaler Politiker in Deutschland, Europa oder den USA wird die demografisch vorgegebenen Veränderungen ihrer Bevölkerungen verhindern können. Streit und Spaltung können die Rechten schaffen, einen ethnisch reinen Volkskörper nicht.
Für eine pluralistische Gesellschaft - individuell und vielfältig
Die Reformen des Staatsangehörigkeitsgesetzes seit 1992 sind deshalb zwingend. Deutschsein erklärt sich heute noch viel weniger als damals aus der Abstammung von Deutschen. Kluge Politiker haben begriffen, dass sie für den Erfolg bei Wahlen zunehmend auch die Stimmen der Eingewanderten und ihrer Nachkommen brauchen. Selbst die AfD weiß das, sie wirbt aktiv unter Polen, russischsprachigen Einwanderern und anderen um Stimmen.
Der britische Publizist Timothy Garton Ash hat neulich dem Spiegel gesagt, Europas Intellektuelle hätten den Bedarf nach Heimat und Identität nicht genügend berücksichtigt; man dürfe diese Begriffe nicht den Rechten überlassen. Das ist derzeit eine populäre These. Sie ist aber doch problematisch. Heimat ist in modernen, pluralistischen Gesellschaften individuell und vielfältig; sie bezieht sich auf sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen und Werte. Heimat kann nur unter hohen Kosten kollektiv und verbindlich definiert werden - sie würde dann unterschiedlichen Schicksalen übergestülpt und bestimmen, wer dazugehört und wer nicht.
Schon die Frage, ob Migranten zu "unserer" Heimat gehören, grenzt hinterhältig aus. Appelle an "die" Heimat und an ein "Wir" werden fast immer missbraucht, um von echtem Bedarf abzulenken: Einkommen, Beschäftigung, bezahlbares Wohnen, Gesundheit.
In Chemnitz konnte man sehen, wie Demagogen mit absurden Wahnideen viele Menschen gegen alle Wirklichkeit verhetzen können. Heinrich von Treitschke schrieb 1879: "Die Juden sind unser Unglück" - die Nazis griffen das dankbar auf. Heute sollen die Ausländer unser Unglück sein, gerade in Ostdeutschland, wo es kaum Migranten gibt und es den Menschen dort besser geht als den Nachbarn in Osteuropa.
Eine unumkehrbare Einwanderungsgesellschaft
Nüchternheit und Sachlichkeit sind für den Diskurs über Einwanderung wichtige Tugenden. Vor zwanzig Jahren habe ich mit dem Historiker Klaus J. Bade und anderen den "Rat für Migration" gegründet. Wir wollten damals klarstellen: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Heute klingt das selbstverständlich, damals galt das als revolutionäre These.
Zwei Jahrzehnte später müssen wir einen Schritt weitergehen: Die deutsche Gesellschaft ist unumkehrbar eine Einwanderungsgesellschaft geworden. Es gibt keine monokulturelle Aufnahmegesellschaft mehr, die den Flüchtlingen gegenübersteht und an die sich diese anpassen müssen.
Deutschland hat sich durch Migration stark verändert und wird es weiterhin tun. Das ist nicht automatisch gut, und es verunsichert manche Menschen. Aber es ist eine Tatsache, die man anerkennen muss. Dann kommt man zum nächsten Schritt: Migration muss klug gestaltet werden. Die ständige Problematisierung bringt uns nicht weiter. Ja, es liegen Dinge im Argen - aber das Zusammenleben funktioniert insgesamt gut, viel besser, als die gegenwärtige Debatte glauben machen will.
Das Leben in Deutschland hat sich in allen Facetten verändert, am banalsten wie anschaulichsten zeigt sich das beim Thema Essen: Wer wollte kulinarisch in die 50er Jahre zurück? Aber auch in vielen anderen wichtigen Bereichen hat Deutschland durch seine Einwanderer gewonnen. Es ist kosmopolitisch geworden. Die Bücherbestände unserer Urgroßeltern mögen eindrucksvoll sein - aber es fehlt in ihnen vieles, was heute selbstverständlich Teil der Kultur ist.
Abschied nehmen von der ethnischen Nation
Migration gestalten heißt Gesellschaft gestalten. Wir müssen uns von der ethnischen Nation verabschieden und einer republikanischen Verfassungsnation Gestalt geben. Bürger der Republik können prinzipiell alle Menschen werden, die sich zur republikanischen Verfassung und ihren Werten bekennen. Das ist theoretisch rechtlich bereits der Fall.
Aber die Diskussionen zeigen, dass das in den Köpfen vieler Menschen noch nicht angekommen ist. Daran müssen wir arbeiten. Natürlich ist auch eine pluralistische, republikanische Nation nicht gefeit gegen Demagogen, Dummheit und Schicksalsschläge. Aber sie ist doch die bessere Alternative zu völkischer Borniertheit und einer Herkunftsarroganz, die ins kriminell Gewalttätige ausartet.
Was zur Gestaltung des Einwanderungslands gehört, war im Grunde schon vor 20 Jahren klar: Es braucht Sprachförderung, Zugang zum Arbeitsmarkt, politische Teilhabe, Möglichkeiten für Begegnungen im Alltag wie im Sport und im Ehrenamt; es braucht eine integrative Kommunalpolitik, ein Wahlrecht für alle und eine umfassende Schulreform. Das ist machbar. Vieles ist schon jetzt erreicht, vieles muss einfach nur weitergehen.
Die Bundesrepublik ist stark, trotz allem; ihre Bürger müssen nun darum kämpfen, dass ihr Land nicht in die Barbarei zurückfällt. 2015 stand das Leben der Flüchtlinge im Vordergrund. Menschen, die vor Bombenhagel, Gaswaffeneinsatz und anderen Lebensgefahren fliehen, sollten Hilfe bekommen. So muss es sein. Alles andere ist unmenschlich.
Dieter Oberndörfer
© Süddeutsche Zeitung 2018
Der Freiburger Politikwissenschaftler Dieter Oberndörfer, 88, gehörte zu den ersten Migrationsforschern in Deutschland.