Arbeit an der Einwanderungsgesellschaft

Der 2011 gegründete Verein Deutsch Plus will mehr Chancengleichheit und Teilhabe für Menschen mit Migrationshintergrund. Durch Akzeptanz für Vielfalt soll sich Deutschland aus einem Einwanderungsland in Richtung Einwanderungsgesellschaft bewegen. Von Claudia Mende

Von Claudia Mende

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Rund 18,6 Millionen Menschen oder mehr als 20 Prozent der Bevölkerung sind entweder selbst zugewandert oder haben migrantische Vorfahren. Die Mehrheit von ihnen (9,6 Millionen) hat einen deutschen Pass. In vielen Bereichen der Gesellschaft sind Menschen mit Migrationshintergrund aber nicht ihrem Anteil an der Bevölkerung entsprechend vertreten. Politik, Verwaltung und Wirtschaft, aber auch Wissenschaft, Kultur und Medien sind noch nicht so weit. Sie spiegeln die Vielfalt in der Bevölkerung noch nicht angemessen wider.

Während ihre Eltern mehr in ethnisch bezogenen Vereinen aktiv waren, fordern Migranten der zweiten und dritten Generation heute aktiv Chancengleichheit und Teilhabe in der Gesellschaft. Eine ganze Reihe von Organisationen ist in den letzten Jahren zu diesem Zweck entstanden, eine dieser Organisationen ist der Verein Deutsch Plus.

Deutsch Plus ist eine Initiative junger Schriftsteller, Filmemacher, Wissenschaftler und Unternehmer. Zum erweiterten Vorstand des Vereins gehören etwa die Sozialwissenschaftlerinnen Naika Foroutan und Esra Kücük oder der Sozialunternehmer Murat Suner.

Vorsitzender des Vereins ist der Politikwissenschaftler Farhad Dilmaghani, der von 2012 bis 2013 Staatssekretär bei der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen war. Zum erweiterten Kreis zählen rund 400 Förderer und Unterstützer in ganz Deutschland.

Gegründet wurde der Verein auch als Reaktion auf die Sarrazin-Kontroverse im Jahr 2010. Der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin hatte damals mit seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ Migranten arabischer Herkunft abwertend beschrieben und dazu beigetragen, in der Gesellschaft Stereotype zu verschärfen.

Das Netzwerk Deutsch Plus wollte dem etwas entgegensetzen und zu einer besseren Akzeptanz von Vielfalt in der Gesellschaft beitragen. Für den Vorsitzenden Farhad Dilmaghani ist klar, eine Einwanderungsgesellschaft ist Deutschland erst dann, wenn das Land von „Vielfalt als Grundlage der Gesellschaft überzeugt ist“. So weit ist das Land aber noch nicht.

 DEUTSCHPLUS engagiert sich als gemeinnütziger Verein für ein plurales Deutschland von morgen.  Foto: Deutsch plus
Vielfalt als Staatsziel: DEUTSCHPLUS engagiert sich als gemeinnütziger Verein für ein plurales Deutschland von morgen. Für den Vorsitzenden Farhad Dilmaghani ist klar, eine Einwanderungsgesellschaft ist Deutschland erst dann, wenn das Land von „Vielfalt als Grundlage der Gesellschaft überzeugt ist“

Interkulturelle Öffnung von Institutionen

Ein wichtiges Thema ist etwas die interkulturelle Öffnung von Institutionen. Dazu bietet der Verein zusammen mit der Robert-Bosch-Stiftung einen „Vielfaltscheck“ an, den staatlichen Institutionen, Organisationen und Wohlfahrtsverbände nutzen können.

Deutsch Plus macht dann in Workshops oder bei Einzelberatungen eine Bestandsaufnahme mit den Organisationen und begleitet sie auf der Reise in Richtung mehr Vielfalt, die ein bis zwei Jahre dauern kann. Sie erhalten dann die nötigen Werkzeuge für diesen Prozess. Staatliche Einrichtungen auf Landes- und Bundesebene nehmen dieses Angebot in Anspruch, wie zum Beispiel das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Berlin, aber auch Wohlfahrtsverbände wie die Diakonie.

Für die öffentliche Hand ist interkulturelle Öffnung erst seit rund zehn Jahren überhaupt ein Thema. Im Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung von 2007 wurde erstmals gefordert, den Anteil von Migranten im öffentlichen Dienst zu erhöhen. Die personelle Zusammensetzung von Behörden, Ministerien und Ämtern sollte ein Spiegel der Bevölkerung sein.

Derzeit liegt der Anteil von Beschäftigten mit Migrationshintergrund bei nur sieben Prozent, außerdem haben sie häufiger befristete Verträge und sind seltener verbeamtet als ihre Kollegen ohne Migrationshintergrund. Anders ist das etwa bei Betriebsräten. Ihre Zusammensetzung entspricht im Wesentlichen der Diversität in der Bevölkerung. "Bei der Interkulturellen Öffnung von staatlichen Institutionen ist Deutschland noch überwiegend Entwicklungsland", sagt Dilmaghani. Am weitesten seien Kommunen in diesem Prozess.

Es gebe bei der Gewinnung von Azubis mit Migrationshintergrund beispielsweise im Polizeidienst durchaus Fortschritte, sagt Dilmaghani. Aber insgesamt sei viel zu wenig passiert, um die Dynamik einer Einwanderungsgesellschaft auch in den öffentlichen Institutionen abzubilden. "Da bleibt noch sehr viel zu tun." In öffentlichen Institutionen gibt es weniger Fluktuation. Daher dauert es länger, bis sich Veränderungen bemerkbar machen.

Die Personalpolitik ist aber nur ein Aspekt von interkultureller Öffnung. Es geht vielmehr um die Veränderung der gesamten Kultur einer Institution oder Einrichtung. Sie wirkt sich auf die Kommunikation nach innen und nach außen aus und kann etwa bei Ämtern oder Wohlfahrtsverbänden auch zu einem überarbeiteten Angebot führen. Wie bei allen Veränderungen kann auch der Prozess der interkulturellen Öffnung bei der Belegschaft Widerstände hervorrufen, wenn neue Konkurrenzsituationen entstehen.

 

Neue Verteilungskämpfe

Neue Verteilungskämpfe entstehen in der Gesellschaft auch, weil die jüngere Generation von Migranten heute in akademische Berufe drängt und über bessere Bildungsabschlüsse als ihre Eltern verfügt.

Die derzeitige Zunahme von antimuslimischer Hetze bis hin zu tätlichen Übergriffen zum Beispiel gegen Moscheen oder Frauen, die Kopftuch tragen, lässt sich auch vor diesem Hintergrund verstehen. Für Dilmaghani ist daher besonders wichtig, Institutionen so zu stärken, dass sie angemessen und zivilisiert mit entstehenden Konflikten umgehen können.

Migrantenorganisationen bringen die Anliegen der "neuen Deutschen" zum Ausdruck. Rund 20.000 solcher Organisationen  gibt es nach Angaben der Bundesregierung derzeit in Deutschland. Viele Vereine basieren im Wesentlichen noch auf ehrenamtlichen Strukturen und sind dringend auf Professionalisierung angewiesen. Denn bei allem Enthusiasmus von Ehrenamtlichen haben diese Vereine noch einen erheblichen Nachholbedarf, wenn es um Know-how für Fundraising geht oder darum, öffentliche Fördergelder zu beantragen.

Das neue Projekt "Stimmen für Vielfalt – Teilhabe lokal professionalisieren" bei Deutsch Plus bietet Schulung und Beratung für die Vereine an, will aber auch zu einer besseren Vernetzung untereinander beitragen. Es wird vom Bundesfamilienministerium gefördert. Bevorzugt angenommen, werden dabei Organisationen aus strukturschwachen Regionen wie in Ostdeutschland sowie solche, die sich in besonderer Weise gegen Rassismus einsetzen.

Die medialen Debatten drehen sich häufig um Defizite bei der Integration. Das spiegelt aber nicht die Alltagserfahrung, wonach Integration bereits vielerorts selbstverständlich gelebt wird. Für viele Probleme im Zusammenleben wurden längst pragmatische Lösungen gefunden.

Für Dilmaghani reflektiert dieses Missverhältnis zwischen gelebter Praxis und medialem Diskurs die Machtverhältnisse in der Gesellschaft. Heterogenität sei bei den Eliten noch nicht angekommen, meint er, denn in Redaktionen, politischen Gremien und in der Wirtschaftselite gebe es noch keine große Vielfalt. "Aber sie bestimmen den Diskurs und das Mindset", so entsteht eine Schieflage, meint Dilmaghani.

Trotz des Rechtsrucks in der Gesellschaft seit 2015, vor allem durch das Auftreten der AfD, die zunehmend die politische Agenda bestimmt, ist Dilmaghani für die Zukunft nicht pessimistisch. Er hält die Gegenkräfte in der Gesellschaft für stark genug. Das Engagement vieler Menschen etwa in der Flüchtlingshilfe habe das bewiesen. Auf dieses Fundament könne man bauen, glaubt er.

Claudia Mende

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