Flüchtling oder Migrant: Was besagt ein Name?
Raisa Abdul Azim war acht Monate und Aylan Kurdi drei Monate alt, als ihre Familien kurz hintereinander seeuntüchtige Boote bestiegen, um in Europa eine Zukunft für ihre Kinder zu finden. Ihre Schicksale gleichen einander sehr, was die Entwurzelung und der tragische Tod auf See angeht. Doch Raisa war die Tochter von Arbeitsmigranten aus Bangladesch in Libyen, während Aylan der Sohn syrischer Flüchtlinge in der Türkei war. Aus offizieller Sicht sind dies grundverschiedene Menschen. Doch ist das tatsächlich so?
Angesichts einer fehlenden universellen Rechtsdefinition beschreibt das Wort "Arbeitsmigrant" lediglich Menschen, die in einem Land leben und arbeiten, das nicht ihr Heimatland ist. Laut einer Statistik gibt es weltweit 232 Millionen Arbeitsmigranten. 19,5 Millionen davon sind Menschen, die aus ihrem Land vor Verfolgung oder Krieg geflohen sind.
Diese beeindruckenden Zahlen sagen aber nichts über die Beweggründe und Bedürfnisse von Migranten aus. Insbesondere nicht über die Migranten, die keine Flüchtlinge sind, die aber dennoch marginalisiert oder ausgeschlossen werden und häufig Opfer von Gewalt sind. Ganz gleich, ob diese Migranten 20 oder 50 Prozent dieser heterogenen Menschenströme ausmachen – ihr Leben zählt.
Vor etwa 70 Jahren und im Schatten des aufziehenden Kalten Krieges definierte die internationale Gemeinschaft einen "Flüchtling" als jemanden, der vor politischer Verfolgung flieht; also nicht vor bitterer Armut. In den Jahrzehnten seit 1951 wird die internationale Migration nuancierter wahrgenommen. Es wird immer klarer: Menschliche Schicksale lassen sich nicht so einordnen, wie dies unsere Rechtsordnung gerne hätte.
Wechselhafte Migrationsdynamik
Für viele Millionen Arbeitsmigranten ist die Migration heute durch ein unterschiedliches Maß von Zwang und Freiwilligkeit gekennzeichnet. Die Fluchtrouten sind lang und verzweigt. In ihrem Verlauf ändern sich die Begleitumstände mitunter ebenso wie der jeweilige Status einer Person – häufig sogar drastisch.
Viele harren jahrelang in Flüchtlingslagern aus. Viele andere stranden in Transitzonen, arbeiten unter menschenunwürdigen Umständen, sind gefangen in einem endlosen Kreislauf aus Schutzlosigkeit, Missbrauch und Unsicherheit.
Auf die Strände Libyens sind nur wenige Fernsehkameras gerichtet. Wir wissen daher kaum etwas über Leben und Tod von Raisa Abdul Razim. Vermutlich haben ihre Eltern jahrelang in Libyen gelebt und gearbeitet. Denn Raisa und ihre fünfjährige Schwester wurden dort geboren. Dass ihre Familie sich entschied, in dem mörderischen Chaos des heutigen Libyens auszuharren und dann – als das Leben dort unerträglich wurde – die gefährliche Reise nach Europa zu wagen, statt nach Bangladesch zurückzukehren, spricht Bände.
Bangladesch ist eines der ärmsten Länder der Welt. Zudem liegt es in einem der gefährlichsten Katastrophengebiete weltweit und wird regelmäßig von verheerenden Fluten und Wirbelstürmen heimgesucht. Schätzungen zufolge leben 43 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Und das in einem Land, das auf Platz 9 der bevölkerungsreichsten Länder steht.
Verzweifelte Suche nach Chancen, Sicherheit und Würde
Wir haben bislang kein besseres Wort für Menschen, die wir nicht "Flüchtlinge" nennen können, die ihrer Heimat aber auf der verzweifelten Suche nach Hoffnung, Chancen, Sicherheit und Würde den Rücken kehren.
Jeder, der nicht vor Krieg oder Verfolgung flieht, kommt in unseren Augen freiwillig und kann daher ohne Weiteres zurückkehren. Doch der Begriff "freiwillig" ist umstritten: Wie freiwillig ist die Migration eines Menschen, der für seine Angehörigen nicht die lebensrettende medizinische Versorgung sicherstellen kann, der dort seinen Lebensunterhalt nicht verdienen kann oder der wegen des gescheiterten Bildungssystems keine Zukunft für seine Kinder sieht?
Armut und Ungleichheit, Diskriminierung, Wohnungsnot, Nahrungsnot, Wasserknappheit, fehlendes Gesundheits- oder Schulwesen: Jeder dieser Faktoren oder alle zusammen treiben Menschen zu einer Auswanderung, die man wohl kaum als freiwillig bezeichnen darf. "Die zermürbende Armut oder der endlose Kampf können wie eine Kanone sein, die auf deinen Kopf gerichtet ist", sagte der US-amerikanische Schriftsteller Teju Cole.
Wer den "echten" politischen Flüchtling dem "falschen" Arbeitsmigranten gegenüberstellt, ignoriert nicht nur diese komplexe Wirklichkeit, sondern spielt auch denen in die Hände, die Fremde aus ganz anderen Gründen herabsetzen und dämonisieren wollen. Der Schutz der Menschenrechte ist kein Nullsummenspiel: Wer den Migranten den Schutz gewährt, der ihnen laut Menschenrechten zusteht, nimmt Flüchtlingen nichts von dem Schutz, den sie laut Flüchtlingsrecht genießen.
In den Augen bestimmter rechtspopulistischer Politiker und Medien sind Migranten "Plünderer" und "Schmarotzer". Die Definition dessen, was Migranten sind, was sie wollen oder was sie verdienen, sollten wir aber nicht den Urhebern dieser Hetzparolen überlassen.
Alle Migranten verdienen unser Mitgefühl und unsere Sympathie als Mitmenschen. Als Rechteinhaber haben sie ebenso wie wir Anspruch auf die Achtung der Menschenrechte. Außerdem hängt der Erfolg unserer Migrationspolitik davon ab, wie gut wir die jeweiligen Beweggründe und Lebensumstände von Migranten verstehen und ob wir sie als Mitmenschen behandeln, statt als Bedrohung oder statistische Größe.
Europas wachsende Alterspyramide
Die überwiegende Mehrzahl der Migranten sucht nicht das soziale Netz. Allein in Europa wird es in etwa 50 Jahren rund 50 Millionen weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter geben. In der EU wird sich durch Alterung und Geburtenrückgang der Altersabhängigkeits- oder Alterslastquotient von 27,5 Prozent im Jahre 2013 auf 51,0 Prozent im Jahre 2080 steigen. Der Pflegebedarf wird zunehmen und es werden immer weniger junge Menschen die Last der wachsenden älteren Bevölkerung tragen müssen.
In Deutschland geht innerhalb der nächsten 15 Jahre die Hälfte der heute noch Erwerbstätigen in den Altersruhestand, berichtet die Bertelsmann Stiftung. Ohne Arbeitsmigration von außerhalb der EU wird das Arbeitskräftereservoir in Deutschland bis 2050 von aktuell 45 Millionen auf dann 29 Millionen Menschen (also um 36 Prozent) sinken.
Trotz des strukturellen Bedarfs an Arbeitsmigration reicht die Zuwanderung nach Europa über die regulären Wege nicht aus. Dies gilt insbesondere für die Bereiche, in denen sie am dringendsten benötigt wird, nämlich im Pflegesektor. Die Folge: Viele Migranten wandern auf irregulären Wegen ein. Dabei ist hinreichend belegt, dass Migranten im Allgemeinen mehr an Steuern und Sozialabgaben beitragen, als sie an Sozialleistungen empfangen. Anstatt auf Vorurteile und Stereotypen Rücksicht zu nehmen, sollte unsere Migrationspolitik auf diese Fakten reagieren.
Für alle Migranten, die sich durch Auswanderung aus ihrer verzweifelten Lage befreien wollen – die junge Frau, die sich nach wirtschaftlicher Selbstständigkeit sehnt und auf ihrer langen und beschwerlichen Reise auch sexuelle Gewalt erlitten hat, der Teenager, der von einer verarmten Familie als einziger Hoffnungsträger auf einen Seelenverkäufer eingeschifft wird, Raisa Abdul Azim und ihre Familie, die nach einer menschenwürdigen Zukunft suchten – für alle diese Migranten benötigen wir ein neues Wort oder sogar einen neuen rechtlichen Schutzrahmen.
Doch was wir im Augenblick ganz besonders benötigen, ist die Entschlossenheit, unser Handeln an den Worten der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auszurichten: "Alle Menschen sind frei und an Würde und Rechten gleich geboren".
Pia Oberoi
© Open Democracy 2015
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers