Kalligraphie als moderne Protestkultur
Ein Graffiti kann weitaus mehr sein als nur eine Wandzeichnung aus der Spraydose: Denn diese besondere Art der Straßenkunst hat bei den revolutionären Umbrüchen in der arabischen Welt auch eine Rolle gespielt. Der Aufstand in Syrien wurde Anfang März von der Verhaftung einer Gruppe von Kindern zwischen acht und 15 Jahren in Gang gesetzt, die beim Zeichnen eines regimekritischen Graffitis an den Wänden Ihres Schulgebäudes ertappt worden waren.
Die Kinder wurden am 20. März freigelassen. Berichten zufolge hatte man sie während der Haft gefoltert, woraufhin die Menschen empört auf die Straße gingen, um gegen die Regierung zu demonstrieren - ein Protest, der bis heute andauert.
Dass es Graffiti in der arabischen Welt überhaupt gibt, wird von breiten Teilen der Öffentlichkeit im Westen überhaupt nicht wahrgenommen. Ein im Berliner Verlag 'From Here to Fame' herausgegebenes Buch will das nun ändern: Der Band, verfasst vom deutschen Graffiti-Autor und Verleger Don Karl und dem libanesischen Typographen Pascal Zoghbi, stellt die wichtigsten Künstler aus der Region vor und führt zudem in das arabische Alphabet ein. Zudem erklärt das Buch die Grundlagen verschiedener klassischer Kalligraphie-Stile.
In der westlichen Welt ist die Grundlage des Graffitis das sogenannte "Taggen", also das Markieren der Wandzeichnung mit dem Namen oder Pseudonym eines Graffiti-Sprayers.
Der Typograph Pascal Zoghbi meint, dass das Graffiti in der arabischen Welt eine andere, gesellschaftlich bedeutendere Rolle als im Westen eingenommen hat – es ist viel mehr als nur das klassische "Revier-Markieren" vieler US-amerikanischer oder europäischer Sprayer. Slogans wie "Unterstütze die Revolution!" breiten sich von Land zu Land aus und stellen daher ein aktives Zeichen der politischen Protestkultur in der Region dar.
Für Dissidenten in einem von der Zensur betroffenen Land sei das Graffiti die einfachste und schnellste - und nicht selten die einzige - Methode, seine Meinung frei zu äußern. "Zeitschriften werden zensiert, Blogs werden gesperrt", so Zoghbi. "Die Regierung hat oft die gesamte Kommunikationsstruktur unter ihrer Kontrolle, sodass das Graffiti nicht selten der einzige Weg ist, öffentlich eine Position einzunehmen, ein Statement abzugeben."
Der Preis der Meinungsäußerung
Anders als in der westlichen Welt werden Graffitis in einigen arabischen Ländern immer noch mit drakonischen Strafen sanktioniert. Berichten zufolge haben in Syrien die Schergen des Regimes den jugendlichen Sprayern die Fingernägel ausgerissen. In Libyen zahlten einige der Demonstranten, die Ihre Botschaft mit Sprühdosen auf den Straßen verbreiteten, einen noch viel höheren Preis.
"Als sie die Widerstandflagge zeichneten, die den Machthaber Gadaffi hinwegfegt, wurden sie von Gaddafis Sicherheitskräften erschossen", schildert Zoghbi.
Der Libanon zählt dagegen zu jenen Ländern in der arabischen Welt, in denen Graffiti nicht illegalisiert werden. Was den Stil betrifft, so sind die libanesischen Künstler stark von der New Yorker Graffiti-Kunst der 1980er Jahren beeinflusst, während Graffiti-Künstler in anderen arabischen Ländern stärker von den vertrauten Linien der arabischen Schrift inspiriert werden, erklärt Zoghbi.
Dagegen hat die Straßenkunst in Palästina viele Formen von politischen Botschaften: von klassischen Wandmalereien bis hin zu schablonierten Märtyrer-Abbildungen.
Die umstrittene Mauer, die Israel im Westjordanland errichtet hat, ist darüber hinaus ein zentrales Thema für palästinensische und international anerkannte Künstler wie etwa Banksy, Blu und Swoon, um die israelische Politik kritisch zu hinterfragen.
Die Kunst mit Botschaft
Einer der einflussreichsten Künstler, der in dem Buch "Arabic Graffiti" vorgestellt wird, ist der in Frankreich geborene Tunesier eL Seed, der derzeit in Kanada lebt.
eL Seed hat sich einen besonders ausdruckstarken kalligraphischen Stil zu eigen gemacht, der auf die traditionelle arabische Schrift und einem unverbrauchten urbanen Bewusstsein basiert. Bei seinen groß angelegten künstlerischen Darstellungen steht die Botschaft plakativ im Vordergrund. Die Graffitis bestehen aus Sinnsprüchen wie "Respektiere unsere älteren Menschen", "Inspiration" und "Ich brauche meine Geschichte".
"el Seed modernisiert die Kunstart grundlegend, er macht sie städtisch, sodass es die jungen Graffiti-Künstler, wie zum Beispiel jene in Beirut, inspiriert", sagt Don Karl über eL Seed. "Jeder kennt ihn und jeder mag seine Arbeit."
Künstler wie eL Seed beziehen sich in ihren Werken auf antike Traditionen. Die Entwicklung der arabischen Sprache wird in die Zeit um 1300 v. Chr. datiert. Das arabische Alphabet selbst ist um 500 v. Chr. entstanden.
Das Buch beinhaltet eine kurze Beschreibung der verschiedenen kalligraphischen Stile, inklusive der ältesten und sehr raffinierten arabische Schrift, Kufi, welche sich in zwei Kategorien aufgeteilt hat. Der feine, kurvenförmige Stil wurde in Nordafrika und Spanien benutzt, während die rechteckige kufische Form im Osten der arabischen Welt weiter entwickelt wurde.
Antike arabische Schrift in Paris
L'Atlas ist ein Künstler aus Paris, der in den 1980ern und 1990er Jahren von dem Graffiti-Wahn erfasst wurde, sich aber für mehr als nur die lateinische Schrift, mit der er aufwuchs, interessierte. Besessen von Schriftzeichen aller Art, begann er die chinesische und arabische Kalligraphie zu studieren.
Nachdem er arabische Kalligraphie-Lehrmeister kennenlernte, studierte l'Atlas in Marokko, Ägypten und Syrien und entwickelte eine Leidenschaft für die eckige Kufi-Schrift.
L'Atlas entwickelte eine neue Art vom Alphabet, bei dem er lateinische Buchstaben mit den geometrischen kufischen Formen kombiniert, um neue visuelle Möglichkeiten aufzuspüren und eine Brücke zwischen dem Osten und Westen zu errichten.
Nachdem er 2001 von der Polizei beim Graffitizeichnen aufgegriffen wurde, entschied sich l'Atlas, seine Ideen auf legal Weise zum Ausdruck zu bringen. Er begann das "abziehbare Gafferband" einzusetzen.
Mit seinen Graffitis möchte er die Menschen dazu anregen, ihre festgefügten Standpunkte zu hinterfragen. "Meine Arbeit steht dem Menschen gegenüber und sagt: "Wohin gehst du? Was machst du", erklärt l'Atlas.
Der Kompass war auch ein Sinnbild seiner selbst, als Künstler, der aus dem Underground kam und lernen musste, sich im Stadtleben und in der Kunstwelt zurechtzufinden. Innerhalb weniger Jahre hatte jeder in Paris von l'Atlas gehört und von seinem Wunsch, Kontinente, Epochen und Kunstformen zu verbinden.
Cinnamon Nippard
© Deutsche Welle/Qantara.de 2011
Übersetzung aus dem Englischen von Rigien Bagekany
Redaktion: Arian Fariborz & Lewis Gropp/Qantara.de