Solidarität kennt keine Grenzen
Ich war nie eine Lokal-Patriotin. Ich empfand meine 24.000-Seelen-Heimatstadt als Provinznest, fühlte mich in ihrem familiär-konservativen Umfeld zwar gut aufgehoben, jedoch eingeengt und kaum gefordert. Der Horizont war begrenzt, die Welt spielte sich außerhalb ab. Doch am vergangenen Wochenende hielt sie Einzug in Wertheim.
Anfang August war ein Aufschrei durch die Lokalpresse gegangen: "Wir bekommen eine Lea." Eine bitte was? Eine Landeserstaufnahmestelle. Ein Flüchtlingsheim. Das Gebäude der Polizeiakademie sollte bis Mitte Oktober in eine solche umgewandelt werden.
Bereits am Sonntagmorgen, den 13. September, kam der Anruf aus Stuttgart: Heute Abend kommen 450 Flüchtlinge. Es waren jene zahllosen Flüchtlinge, die am Tag zuvor von Österreich kommend in die bayrische Landeshauptstadt geströmt waren.
Ein Übermaß an Hilfsbereitschaft
Vor dem, was sich in Wertheim in den nachfolgenden Stunden abspielte, kann man wohl nur den Hut ziehen. Alle packten mit an – Feuerwehr, DRK, THW, eine Armada freiwilliger Helfer. Das Gebäude wurde für die Flüchtlinge vorbereitet, Lebensmittel, Hygieneartikel und Kleidung besorgt, eine ärztliche Versorgung eingerichtet. Am Abend standen die Wertheimer bereit und hießen die Geflüchteten mit Plakaten und Rosen willkommen.
Auch in den folgenden Tagen riss das Übermaß an Hilfsbereitschaft nicht ab, was sich auch als dringend notwendig herausstellte, da die Hilfe "von oben" fürs Erste ausblieb. Mich selbst machte all dies irgendwie stolz. Ich war überrascht von der überbordenden Solidarität und Tatkraft. Gerechnet hatte ich mit Misstrauen und vielleicht sogar Unmut, aber nicht mit dieser allseits positiven Stimmung, die das Städtchen "summen ließ wie einen Bienenstock" und dafür sorgte, dass der neu gegründete Verein "Willkommen in Wertheim" von einem "positiven Problem" sprach in Bezug auf das schiere Übermaß an Freiwilligen und Sachspenden.
Dennoch drohte die tatkräftige, ja fast euphorische Stimmung der Helfer nach mehreren Tagen (und Nächten) des Einsatzes zu kippen. 600 Flüchtlinge waren inzwischen angekommen und trotz der Übernahme der Einrichtung durch den privaten Dienstleister "European Homecare" herrschte Chaos. Der Einsatz der Freiwilligen war nach wie vor unabdingbar.
Vor einem "Kollaps" warnte auch der Wertheimer Oberbürgermeister Stefan Miculicz vor einigen Tagen angesichts der Pläne der Landesregierung, die Notunterkunft in der zur Anlage gehörenden Sporthalle in den kommenden Tagen für weitere Flüchtlinge zu nutzen. Diese Pläne wurden nun zunichte gemacht.
In der Nacht auf den vergangenen Sonntag (20.09.) verübten Unbekannte einen Brandanschlag auf eben jene Sporthalle, in der noch am Tag zuvor 330 Betten aufgestellt worden waren, um für den Notfall gerüstet zu sein. Obwohl bei dem Anschlag zum Glück niemand verletzt wurde, war die Nachricht dennoch ein Schlag ins Gesicht für alle; eine allzu deutliche Erinnerung daran, dass rechte Gewalt und Ausländerfeindlichkeit auch bei uns Realität sind. Hoffnungen, dass es sich um einen Angriff "von außen" gehandelt habe, machten die Runde, doch im Grunde genommen war allen klar, dass man zu voreilig von einer allseits geteilten Solidarität ausgegangen war.
Für eine Willkommenskultur
Ein solcher Anschlag kann das Gefühl des Zusammenhalts und die Motivation einer Gemeinschaft negativ beeinträchtigen – oder im Gegenteil sogar noch verstärken. Am letzten Sonntagabend versammelten sich etwa 1.500 Menschen jeden Alters zu einer Kundgebung vor der ausgebrannten Sporthalle, um gemeinsam den Anschlag zu verurteilen und den Flüchtlingen zu signalisieren, dass sie mehr denn je willkommen seien.
Zu den Flüchtlingen selbst waren die Geschehnisse bisher kaum durchgedrungen und nicht wenige wunderten sich über den plötzlichen Andrang. Dennoch wandten sie sich winkend mit lauten "Dankaschon"-Rufen an die Besucher. Die Sprachbarriere war in den meisten Fällen unüberbrückbar, das Lächeln dafür umso breiter und der Weg für eine Kontaktaufnahme bereitet.
Für Wertheim, eine deutsche Kleinstadt wie jede andere, bedeutet die Aufnahme der Flüchtlinge viel mehr als einen Akt der Wohltätigkeit oder eine von oben aufgezwungene Bürde. Sie ist eine Chance für die Stadt und ihre Bewohner, sich zu öffnen und Toleranz zu zeigen.
Das "Flüchtlingsproblem“ ist längst zur "Flüchtlingsrealität" geworden und es ist notwendig, dass unsere Gesellschaft dieser mit eben jener positiven und solidarischen Haltung begegnet, welche ich in meinem Heimatstädtchen in den letzten Tagen erfahren durfte.
Laura Overmeyer
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