Tunesiens schwerste Stunde
Der blutige Anschlag auf das Bardo-Museum in Tunis mit 22 Toten wirft seine dunklen Schatten auf Tunesiens demokratische Errungenschaften seit der erfolgreichen Jasminrevolution. Zwar galt der Terrorangriff primär ausländischen Touristen, doch das eigentliche Ziel der Attentäter war es wohl, die demokratische Transition und die größeren politischen Parteien des Landes zu treffen und zu destabilisieren.
Für den Erfolg einer demokratischen Transition in Tunesien ist entscheidend, ob es zu einer unilateralen Reaktion der Exekutive, gestützt auf den Sicherheitsapparat, kommt oder ob eine breite gesellschaftliche Koalition entstehen kann. Aus der tunesischen Zivilgesellschaft kommen nach dem Anschlag insbesondere von Menschenrechtsorganisationen Aufrufe zu einer entschiedenen gesamtgesellschaftlichen Reaktion ohne eine Einschränkung der erlangten Bürgerrechte und Freiheiten.
Der Impuls zu einem harten Durchgreifen – und damit zu einem Rückfall in autoritäre Muster – scheint besonders in Teilen der Regierungspartei von Präsident Essebsi groß zu sein. Hardliner innerhalb der Nidaa Tounes ("Ruf Tunesiens") machten gleich nach den Anschlägen mit martialischen Parolen Stimmung. In seiner ersten Rede nach den Anschlägen kündigte Essebsi einen "erbarmungslosen Kampf gegen den Terrorismus" an. Der parteilose Premier Essid versprach "konsequent und ohne Gnade" gegen die die Verantwortlichen vorzugehen.
Geschlossen gegen den Terror
Trotzdem ist über alle politischen Lager hinweg der Wille vorhanden, gemeinsam etwas gegen den Terror zu unternehmen. Auch die islamisch-konservative Ennahda schloss sich den politischen Appellen zur Einigkeit an und verurteilte entschieden den Terroranschlag. Darüber hinaus forderte die Partei einen Gipfel, um eine nationale Strategie gegen den Terrorismus zu entwickeln. Eine solche Initiative könnte denn auch den Grundstein für eine übergreifende Diskussion über politische Maßnahmen zur Terrorbekämpfung legen.
Eingriffe der Sicherheitskräfte – insbesondere in den Grenzregionen zu Algerien – müssen sich an den verfassungsmäßig verankerten, fundamentalen Rechten orientieren. Eine "Blutzolljustiz", wie etwa im Zuge des Umsturzes in Ägypten, könnte die Errungenschaften der tunesischen Revolution zunichte machen. Eine Relativierung des Rechtsstaatsprinzips im Umgang mit islamistischen Terroristen oder eine Einschränkung der im Zuge der Jasminrevolution hart errungenen Freiheitsrechte sollte unbedingt vermieden werden. Eine wachsende staatliche Repression würde lediglich zu einer weiteren Radikalisierung militanter islamistischer Bewegungen führen – und somit zu mehr Gewalt.
Der Sicherheitsapparat Tunesiens, der bereits das Rückgrat des alten Ben-Ali-Regimes bildete, bedarf tiefgreifender Reformen. Bislang verlief dieser Reformprozess jedoch weitgehend schleppend. Infolgedessen sind die Strukturen von Ben Alis Polizeistaat bisher nicht der neuen Verfassungswirklichkeit angepasst worden. Die Sicherheitskräfte operieren nach wie vor größenteils ohne transparente Verantwortlichkeits- und Kommandostrukturen.
Im Zuge einer umfassenden Strategie gegen den Terrorismus müsste daher der Sicherheitssektor – gerade aufgrund seiner Schlüsselrolle – transparenter und effektiver gestaltet werden. Denn die Bekämpfung des Terrorismus sollte nur in verfassungskonformen Bahnen verlaufen. Außerdem wäre es ratsam, den Kampf gegen den Terror noch stärker als bisher auf die eigentlichen Entstehungsursachen zu fokussieren. Armut und Arbeitslosigkeit vieler junger Tunesier macht diese besonders anfällig für religiös-fundamentalistisches Gedankengut, nicht zuletzt aufgrund zunehmender beruflicher Perspektivlosigkeit und finanzieller Hilfszusagen extremistischer Bewegungen.
Dem Terrorismus den Nährboden entziehen
Die schlechte wirtschaftliche Lage der ländlicheren Regionen Tunesiens und die eklatante Jugendarbeitslosigkeit (derzeit bei rund 40 Prozent) bei einem Bevölkerungsanteil von 40 Prozent im Alter von unter 25 Jahren bieten einen idealen Nährboden für die Mobilisierung von fundamentalistischen Gruppierungen in Tunesien.
Mit elf Millionen Einwohnern ist Tunesien eines der bevölkerungsärmsten Länder der Region. Trotzdem stellen tunesische Dschihadisten in den Reihen des "Islamischen Staates" (IS) mit mindestens 3.000 Freiwilligen die größte Gruppe der internationalen Kämpfer. Ohne wirtschaftliche Perspektiven werden junge Tunesier weiterhin leichte Beute extremistischer Demagogen sein. Natürlich kann Aufklärung helfen, doch ebenso müssten auch die grundlegenden sozialen und wirtschaftlichen Nöte in den Blick genommen werden.
Ein wirtschaftlicher Aufschwung, welcher der Jugend neue Perspektiven böte, scheint nach den Anschlägen und den damit zusammenhängenden Ausfällen im Tourismussektor derzeit jedoch mehr als fraglich. Obwohl manche Experten und politische Beobachter bereits vorschnell das Scheitern der tunesischen Demokratie proklamieren und das endgültige Ende der arabischen Aufstände attestieren, hat die tunesische Regierung die Karten selbst in der Hand. Die europäischen Regierungen sollten daher nicht nur zusehen, sondern die Regierung aktiv bei ihrer Reformpolitik unterstützen. Wirtschaftliche Hilfe wird Geld kosten. Diese ist jedoch jetzt besonders nötig, um dem aufkeimenden Terrorismus in Tunesien wirksam vorzubeugen.
Die Anschläge von Tunis sollten als Warnsignal verstanden werden, dass der neue Musterschüler der Demokratie - trotz seines guten Zwischenzeugnisses - noch einen steinigen Weg vor sich hat. Tunesien liegt eingekeilt zwischen dem zerfallenden Libyen im Osten und dem autoritären Algerien im Westen. Der transnationale islamistische Terrorismus ist nicht erst seit dem IS ein länderübergreifendes Problem. Sicherheitspolitisch können gewaltbereite Gruppierungen in den peripheren Grenzregionen nicht von einem Staat alleine erfolgreich bekämpft, sondern höchstens eingedämmt werden.
Eine regionale Zusammenarbeit – insbesondere mit Algerien – ist unabdingbar, um die Rückzugsorte gewaltbereiter Gruppen zu minimieren. Um die Wurzeln des Sicherheitsproblems zu kappen, bedarf Tunesien internationaler Unterstützung und Kooperation. Denn der schlecht ausgerüstete und undurchsichtige Sicherheitsapparat des Maghreblandes scheint momentan nicht in der Lage zu sein, den bewaffneten Gruppierungen wirklich etwas entgegensetzen zu können.
Die Krise als Chance verstehen
Dass in jeder Krise auch eine Chance liegt, gilt auch für Tunesien nach dem Bardo-Attentat. Die Regierung wäre gut beraten, eine nationale Koalition zu bilden und eine nachhaltige Strategie zur Terrorbekämpfung zu entwickeln. Dabei könnte das Attentat das Momentum bieten, welches es für eine Neuausrichtung der Ausbildung und Ausrüstung der Sicherheitskräfte sowie einer transparenten Verantwortlichkeits- und Kommandostruktur des Sicherheitsapparates unter ziviler Kontrolle bedarf. Dabei sollte das noch ausstehende neue Anti-Terror-Gesetz nicht als Vehikel zur Aushebelung fundamentaler Bürgerrechte und Freiheiten dienen. Parlamentarische Kontrollmechanismen sind deshalb wichtig, um solch einem Missbrauch vorzubeugen.
Europas Politiker sollten Tunesien in dieser schwarzen Stunde nicht nur rhetorisch beiseite stehen. Nötig ist vor allem eine enge politische und wirtschaftliche Kooperation mit der Regierung in Tunis. Soviel steht fest: Wenn der Leuchtturm der arabischen Aufstände erlischt, wird es finster am südlichen Mittelmeerufer. Sicherlich wird diese Unterstützung auch Geld kosten. Aber wir sollten uns ernsthaft fragen, was uns Europäern die Demokratie in Nordafrika tatsächlich wert ist.
Ilyas Saliba
© Qantara.de 2015
Ilyas Saliba ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und forscht zur Stabilität autokratischer Regime während der vergangenen arabischen Aufstände.