"Wir wollen ein Vorbild für die arabische Demokratie sein"
Herr Ghanouchi, die Ennahda hat die tunesischen Parlamentswahlen im vergangenen November verloren und zu den Präsidentschaftswahlen keinen eigenen Kandidaten aufgestellt. Steckt Ihre Partei in einer politischen Krise?
Rachid Ghannouchi: Nein. Die Ennahda war an der Regierung, sie ist immer noch zweitstärkste Partei und hat jetzt mehrere Optionen: sie kann Teil einer neuen Regierungskoalition werden oder in die Opposition gehen. Das stärkt die Demokratie in unserem Land, es ist auch ein Zeichen für den Erfolg des tunesischen Modells und hoffentlich ein Vorbild für die gesamte Region.
Warum hat die Ennahda keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt?
Ghannouchi: Das haben wir getan, um unsere junge Demokratie zu schützen. Wir haben in anderen Ländern wie in Ägypten gesehen, wohin eine starke Polarisierung zwischen Islamisten und Säkularisten führen kann. Solch ein Szenario wollten wir in Tunesien vermeiden.
Eine Polarisierung gibt es auch in Tunesien. Was sagen Sie den Leuten, die der Ennahda grundsätzlich misstrauen?
Ghannouchi: Die tunesische Verfassung stellt eine Verkörperung unserer Vision und unserer Weltsicht dar. Die Unterstellung, dass islamische Parteien nur so lange an Demokratie und freie Wahlen glauben, bis sie die Macht erlangen, haben wir in Tunesien widerlegt: Wir haben die Macht abgegeben und die Regierung verlassen, als es das nationale Interesse verlangte. Wir setzen auf Konsens und Kompromisse. Nach den letzten Wahlen haben wir unsere Niederlage akzeptiert und den Gewinnern gratuliert. Wir hoffen, dass diese Realität mehr überzeugt, als es Worte vermögen.
Die neue tunesische Verfassung, die im letzten Januar verabschiedet wurde, gilt als bislang säkularste Verfassung der arabischen Welt. Hat es Sie viel Überwindung gekostet, ihr zuzustimmen?
Ghannouchi: Nein, wir sind sehr stolz auf diese Verfassung. Wir haben sie nicht nur unterstützt, sondern an ihrer Ausarbeitung mitgewirkt. Ich betrachte sie auch nicht als säkulare Verfassung, sondern als eine, die Islam, Demokratie und Modernität vereint. Zwischen einem moderaten Säkularismus und einem moderaten Islam sehen wir auch keinen Konflikt. In vielen europäischen Ländern wie Deutschland gibt es christlich-demokratische Parteien, anderswo gibt es demokratische Parteien mit buddhistischem oder hinduistischem Hintergrund. Warum soll es keine islamisch-demokratischen Parteien geben?
Die tunesische Verfassung gewährt eine sehr weitgehende Glaubens- und Gewissensfreiheit, zu der auch die Abkehr vom Glauben gehören kann. Das ist sehr ungewöhnlich für die arabische Welt...
Ghannouchi: …Das ist etwas, das schon im Koran steht: Es gibt keinen Zwang in der Religion.
Trotzdem gilt Apostasie in manchen arabischen Ländern als Verbrechen...
Ghannouchi: Leider ist das eine Interpretation, der manche Menschen anhängen. Aber ich teile sie nicht. Im Islam haben wir keine Kirche, die von sich behaupten könnte, im Namen Gottes oder des Islam zu sprechen. Es gibt seit jeher eine Freiheit und eine Vielfalt der Interpretationen des Islam. In meinen Schriften und Büchern, die ich schon in den frühen 1990er Jahren schrieb, habe ich dargelegt, dass der Islam die Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert, und dass dies für beide Richtungen gilt: den Glauben anzunehmen und ihn abzulegen.
Werden Sie dafür nicht vielfach kritisiert, wie etwa von den Salafisten?
Ghannouchi: Es gab in der Geschichte des Islam schon immer verschiedene Denkschulen. Aber über 14 Jahrhunderte islamischer Geschichte hinweg waren islamische Gesellschaften immer pluralistisch und haben Menschen akzeptiert, die anderen Glaubensrichtungen oder keinem Glauben anhingen, und haben diese Freiheit und diese Vielfaltgarantiert. Diese Akzeptanz der Vielfalt ist auch nichts, was aus dem Westen importiert werden musste. Wenn wir uns westliche Länder anschauen, dann hat die Akzeptanz von Vielfalt dort erst nach der Renaissance eingesetzt. Davor gab es dort jahrzehntelang Religionskriege.
Die Französische Revolution gilt als Geburtsstunde der Aufklärung, der Demokratie und der Menschenrechte. Wie stehen sie zu diesen Werten?
Ghannouchi: Die tunesische Verfassung steht auf zwei Säulen: den Prinzipien des Islam und den Prinzipien der Moderne und der Menschenrechte, die ein Produkt der Aufklärung sind. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft verfasst.
Es gibt auch eine "islamische Erklärung der Menschenrechte", die 1990 von mehreren muslimischen Staaten verfasst wurde und in einigen Punkten, etwa der Gleichberechtigung der Geschlechter oder der Minderheitenrechte, von den allgemeinen Menschenrechten abweicht. Was halten sie davon?
Ghannouchi: Sie stellt den Versuch dar, die Prinzipien des Islam mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu verbinden. Aber für mich gibt es keinen Widerspruch zwischen den Menschenrechten und islamischen Werten. Wir akzeptieren das in unserer Verfassung, und dies gehört auch zu den Grundlagen meines Denkens.
Was sagen Sie solchen Gruppen, die versuchen, ihre radikalen Islaminterpretationen mit Gewalt durchzusetzen?
Ghannouchi: Dieses Phänomen basiert auf einer extremen Auslegung des Islam, es ist aber auch das Produkt einer bestimmten politischen und sozi-ökonomischen Situation, die solche abnormalen Deutungen produziert. Dies ist jedoch kein spezifisch islamisches Phänomen. Denn extremistische, terroristische Organisationen hat es ja zu verschiedenen Zeiten und in allen möglichen Ländern gegeben. Man denke nur an die Baader-Meinhof-Gruppe in Deutschland oder die Roten Brigaden in Italien. Um solchen Gruppen das Wasser abzugraben, braucht es zwei Dinge: Demokratie und humane Entwicklung.
Tunesien ist heute zwar eine Demokratie. Trotzdem exportiert es auch überdurchschnittlich viele Dschihadisten, die jetzt in Syrien kämpfen. Wie erklären Sie sich das?
Ghannouchi: Die Leute, die jetzt in Syrien sind, sind nicht die Kinder der tunesischen Revolution, die gerade mal vier Jahre her ist, sondern vielmehr sind sie unter Ben Ali aufgewachsen. Man muss die Ursachen des Konflikts verstehen: Dieser gewalttätige Extremismus ist eine Reaktion und ein Resultat der Diktaturen, unter denen diese jungen Menschen aufgewachsen sind – Ben Ali, Gaddafi, Mubarak, Assad, Saddam Hussein... Wer Diktaturen sät, erntet Terrorismus.
Wie kann sich Tunesien vor diesem Extremismus und einem Abgleiten in Chaos und Bürgerkrieg schützen?
Ghannouchi: Ja, wir leben in einer krisengeschüttelten Region. Aber ich glaube, das gemeinsame Staatsverständnis ist in Tunesien stark ausgeprägt, es ist eine relativ homogene Gesellschaft und das Bildungsniveau recht hoch, verglichen mit dem Rest der Region. Auch ist der Islam, an den die Menschen glauben, recht moderat. Darum glaube und hoffe ich, dass mit einer erfolgreichen demokratischen Entwicklung des Landes Terrorismus und der Extremismus in Tunesien keine Chance haben werden.
Kritiker werfen der Ennahda vor, sie sei während ihrer Regierungszeit nicht hart genug gegen extremistische salafistische Gruppen vorgegangen sei. Es gab zwei politische Morde an linken Oppositionellen, die das Land erschüttert haben. Wie stehen Sie zu diesen Vorwürfen?
Ghannouchi: Unsere politischen Gegner beziehungsweise Mitbewerber haben derartige Anschuldigungen erhoben. Ausländische Medien haben diese Vorwürfe aufgegriffen, und dadurch werden sie zu Fakten. Es gab den Terrorismus schon, bevor Ennahda an der Regierung war, und es gab ihn auch danach. Es handelt sich um ein internationales Phänomen, von dem Tunesien seinen Teil abbekommt – und ich hoffe, dass dieser Anteil sehr klein bleiben wird.
Unternimmt Europa Ihrer Meinung nach genug, um die junge Demokratie in Tunesien zu unterstützen?
Ghannouchi: Nein. Europa muss die wirtschaftliche Entwicklung Tunesiens unterstützen – zum Beispiel, durch deutsche Investitionen, um den Tourismus zu fördern oder indem sich europäische Universitäten für tunesische Studenten öffnen, damit diese ihr Wissen und ihre Fähigkeiten weiter entwickeln.
Wir sind die Nachbarn Europas, und wir haben eine gemeinsame Zukunft. Da wäre es fatal, wenn es nur dem einen sehr gut ginge, der andere aber arm bliebe. Westeuropa hat sehr viel getan, um die Demokratie in Osteuropa zu fördern. Leider können wir nicht beobachten, dass es die gleiche Rolle für seine südlichen Nachbarn übernimmt. Dabei ist der Erfolg des tunesischen Modells nicht nur im Interesse Tunesiens und Europas, sondern auch im Interesse unserer maghrebinischen Nachbarstaaten.
Jedem muss doch an einer friedlichen Perspektive für den Nahen Osten gelegen sein. Hunderte Billionen werden dafür ausgegeben, um den Terrorismus zu bekämpfen. Würde nur ein Teil davon investiert, um demokratische Entwicklung in der Region zu fördern, würde das viel dazu beitragen, diese Gefahr zu reduzieren.
Steht die Ennahda für eine andere Wirtschaftspolitik als die anderen Parteien in Tunesien?
Ghannouchi: Unsere Vision ähnelt der sozialdemokratischen. Wir glauben an den Markt, aber auch daran, dass der Staat einen sozialen Ausgleich schaffen sollte. Das wäre auch eine Basis, um mit linken und anderen Parteien zusammenzuarbeiten, die an die Demokratie glauben und denen soziale Gerechtigkeit wichtig erscheint.
Andere islamische Partei wie die Muslimbrüder in Ägypten definieren soziale Gerechtigkeit mehr als Wohlfahrt und Almosenpflicht, denn als Recht. Wie verhält sich das bei Ihrer Partei?
Ghannouchi: Wir sind davon überzeugt, dass der Staat Verantwortung übernehmen muss, um seinen Bürgern soziale Gerechtigkeit zu garantieren – etwa durch Infrastrukturprojekte, in Kooperation mit der Privatwirtschaft. Aber die Zivilgesellschaft trägt auch eine Verantwortung, durch Wohlfahrt und Philanthropie.
Was ist Ihrer Meinung nach in Ägypten schief gegangen, dass die Muslimbrüder einem Militärputsch zum Opfer fielen?
Ghannouchi: Wir haben erste einmal genug damit zu tun, unsere eigenen Fehler zu analysieren.
Das Interview führten Daniel Bax und Tsafrir Cohen.
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