Lernen und lehren für das neue Libyen
Scheich Ali Al Adiq Asus ist in Tripolis ein wichtiger Mann. Im Stadtteil Mansura ist er sogar der entscheidende: als Streitschlichter, Verwaltungschef, Bezirksbürgermeister. Nicht, weil er dazu gewählt worden wäre, sondern weil er ist, wie er ist. Dem Imam vertrauen sie in Mansura, und Leute wie er halten das öffentliche Leben in der libyschen Hauptstadt derzeit in Gang. Kein Staat, keine Verwaltung, aber die Stadt funktioniert.
Die Polizei zeigt sich nicht? Dann stellen sich eben Milizionäre in Phantasieuniformen auf die Straßen und fuchteln mit den Armen. Das macht die Sache zwar nicht viel besser, aber die Autofahrer nehmen es gelassen. Die städtische Müllabfuhr fällt wochenlang aus? Da treten eben Scheich Alis Leute auf den Plan.
In den 17 Bezirken der etwa eineinhalb Millionen Menschen zählenden Hauptstadt Tripolis sind die Einwohner zur Selbsthilfe übergegangen. "Jugend Libyens, achtet das private und das öffentliche Eigentum", steht an den Wänden. Und: "Hört auf damit, in die Luft zu schießen. Es ist gefährlich und traumatisiert Kinder." Die Gesellschaft hat die Stadt übernommen, und bemerkenswert vieles klappt.
Sehnsucht nach einem normalen Alltag
Scheich Ali weiß freilich, dass die Selbstverwaltung irgendwann ein Ende haben muss. "Alle haben einen Beruf, eine Familie, eine Aufgabe, und wir alle sehnen uns nach einem normalen Alltag. Sobald der Staat wieder existiert, ziehen wir uns gern zurück", sagt er.
Doch einstweilen hält er das Leben in Mansura zusammen, so gut es geht. Wer Streit mit seinem Nachbarn hat, geht zu Scheich Ali. Der hört sich alle an und spricht ein weises Wort, dem sich alle unterwerfen. Nicht Rache brauche Libyen jetzt, sondern Vertrauen und Versöhnung, sagt er.
Versöhnung ist ein Wort, das auch in der Redaktion der Zeitung "Libya Al Jadeeda" (Neues Libyen) häufig fällt. Das Programm des neuen Wochenblattes fasst Chefredakteur Mahmud El Misrati in dem Satz "Alles, was Libyen hilft" zusammen.
Dringend gebraucht würden verlässliche Informationen über Angelegenheiten des täglichen Lebens, von Sicherheit über Ernährung bis zum Aufbau politischer Strukturen, gewürzt mit Enthüllungen über den gestürzten Diktator Gaddafi. Die Zeitung stehe allen Richtungen offen, draußen bleiben müssten nur jene, "die Blut an den Händen oder sich die Taschen vollgestopft haben". Aber sonst wolle man möglichst viele Stimmen zu Wort kommen lassen, das schaffe Versöhnung.
"Nach 42 Jahren Diktatur dürfen wir jetzt alle unsere eigene Meinung haben", ergänzt einer der leitenden Redakteure. "Was wir noch lernen müssen ist, die Meinung anderer zu respektieren." Faisal Swehli, einer der Verleger, sagt, die Zeitung habe schon Angebote dreier politischer Gruppen bekommen: finanzielle Hilfe gegen publizistische Unterstützung. Man wolle aber unabhängig bleiben und ein Gegengewicht bilden zu den Zeitungen, die vom Nationalen Übergangsrat finanziert werden.
"Wir brauchen eine Kultur des Lesens"
"Libya Al Jadeeda" war im September von Swehli und Osama Swed gegründet worden. Swehli hatte als Vertreter ausländischer Unternehmen in Libyen gearbeitet, Swed war zu Beginn der Revolution über Tunesien nach Libyen zurückgekehrt. Beide kannten sich aus London, wo sie mehrere Jahre Nachbarn gewesen waren.
Während des Aufstands gegen Gaddafi gründeten sie in Tunesien die Internetseite "New Libya". Sie gewannen Mahmud El Misrati, einen in ganz Libyen bekannten Journalisten, der zu Gaddafis Zeiten außer Landes geflohen war. Die Website wurde zu einer der wichtigsten Informationsquellen während der Revolution, und El Misrati geriet auf die Todesliste des Regimes.
Warum eine Zeitung und kein Onlineportal? "Wir möchten, dass in Libyen auch Teenager Zeitung lesen, denn wir brauchen eine Kultur des Lesens", sagt Swed. Was überall auf der Welt schwierig ist, scheint in Libyen fast unmöglich. Während der Gaddafi-Zeit war die Lektüre der vom Regime kontrollierten Blätter Zeitverschwendung, so langweilig waren sie.
Deshalb liest kaum jemand Zeitung. Swehli und Swed wollen "Libya Al Jadeeda" freilich so lange finanzieren, bis sich das Blatt selbst trägt. Die ersten drei Ausgaben wurden kostenlos verteilt, jetzt zahlen Leser einen halben Dinar, etwa 30 Cent.
Es gibt einige Anzeigen - alles in allem noch viel zu wenig, um die Kosten zu decken, zumal die Auflage von derzeit etwa 5.000 Exemplaren nicht steigen kann, weil die Druckerei nicht mehr hergibt. Immerhin hat die Redaktion Anfang November zum ersten Mal Gehalt bekommen. Doch es fehlt vorn und hinten: an gut ausgebildeten Journalisten, an Druckereien, an einer Vertriebsorganisation.
Die einzige halbwegs brauchbare Zeitungsdruckerei in Tripolis gehört der Übergangsregierung. An den 5.000 Exemplaren der Zeitung "Arous Al Bahr" (Meeresbraut) druckt sie nach Auskunft des Chefredakteurs und Eigentümers Fathi Bin Isa zwei Tage. Und nur unter großen Mühen schafft "Libya Al Jadeeda" wöchentlich einige hundert Exemplare nach Benghasi, nach Misrata und in den Süden des Landes.
"Die Gesichter der Revolution"
In dieser Zeit und unter diesen Umständen eine Zeitung zu gründen mutet tollkühn an. Und doch haben Swehli und Swed es getan, Bin Isa hat es getan und Ibrahim Shebani ebenfalls. Noch in der Gaddafi-Zeit hatte Shebani eine Werbeagentur gegründet, die unter anderem für Procter&Gamble arbeitete, und dabei viel Geld verdient, das er jetzt in seine Zeitschrift "The Libyan" steckt.
Drei Jahre lang hatte er unter dem alten Regime vergeblich versucht, eine Lizenz für eine Lifestyle-Zeitschrift zu bekommen. Weil es ihm während der Revolution frivol vorgekommen wäre, über Mode zu berichten, machte er kurzerhand ein politisches Magazin auf. Dazu scharte er rund ein Dutzend Freunde in Tripolis und Benghasi um sich, sie machen bis heute die Zeitschrift freiwillig und ohne Bezahlung.
Demnächst kommt "The Libyan" zusätzlich mit einer englischen Ausgabe heraus. "Bald kehren die Ausländer nach Tripolis zurück, für sie bereiten wir die englische Version vor", sagt Shebani. An einem Anzeigen-Konzept arbeitet er mit Hochdruck. Und seine Redaktion plant Themen im voraus, was in Libyen nicht unbedingt üblich ist.
Im März soll eine Sonderausgabe "Die Gesichter der Revolution" präsentieren, gewählt von den Lesern. Nicht eine einzelne Person soll im Vordergrund stehen, geplant sind 30 oder 40 Porträts. "Nicht nur einer hat diese Revolution gemacht, wir alle waren es", sagt Shebani.
Noch ist deren Ausgang freilich ungewiss. Die Angst, dass sich eine "Fünfte Kolonne" des alten Regimes verborgen hält, die irgendwann losschlagen könnte, ist mit den Händen zu greifen. Und nach einigen ruhigeren Wochen sind in Tripolis in den vergangenen Tagen wieder Kämpfe zwischen Milizen entbrannt.
Einige dieser Milizen hatten an der Vertreibung Gaddafis teilgenommen, andere waren erst später in die Hauptstadt gekommen, "einfach um auch hier zu sein", wie Faisal Swehli sagt, oder um bei der Verteilung der Posten nichts zu verpassen. Sie zur Abgabe ihrer Waffen und zur Rückkehr in ihre Heimatorte zu bewegen, ist eine der dringendsten Aufgaben der Übergangsregierung.
"Die Milizionäre sind überwiegend junge Leute zwischen 18 und 25 Jahren, die erlebt haben, dass sie mit einem Gewehr in der Hand ein Land aus den Angeln heben können. Sie müssen das normale Leben erst lernen", sagt Swehli. Und Zeitung lesen.
Werner D'Inka
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de