Dimensionen der Niederlage
"Unsere Verpflichtung, Taiwan und Israel zu schützen, bleibt so unverbrüchlich, wie sie stets gewesen ist." Das betonte Jake Sullivan, der Chef des Nationalen Sicherheitsrats der Vereinigten Staaten, als er am 17. August im Weißen Haus zur Weltöffentlichkeit sprach. Es klang ein wenig wie am Thema vorbei. Das Debakel in Afghanistan nahm gerade seinen Lauf. Die US-Streitkräfte, und in ihrem Sog die Verbündeten wie Deutschland, hatten ihre Botschaften in Kabul soeben geräumt und sich zum Flughafen zurückgezogen.
Das Bekenntnis von Joe Bidens oberstem Sicherheitsstrategen zur Unterstützung Taiwans und Israels war als Beruhigung gemeint. So überwältigend muss der Eindruck der hastigen Flucht aus Afghanistan gewesen sein, dass dieses ausdrückliche Bekenntnis nötig erschien. Diese Extra-Erwähnung hat etwas zu bedeuten.
Denn die beiden Verbündeten sind zwar strategisch exponiert und verwundbar, haben aber mit der Afghanistankrise unmittelbar nichts zu tun. Vor allem hätte kein Vernünftiger am effektiven Schutz der USA für diese beiden Staaten gezweifelt. Ob die Worte von Top-Sicherheitsberater Sullivan die Regierungen in Taipeh und Jerusalem tatsächlich beruhigt haben, kann nicht eindeutig ermittelt werden.
Die USA haben in Afghanistan die Seiten gewechselt. Sie haben den Taliban, dem Feind, dem Gastgeber von al-Qaida, gegen den sie vor zwanzig Jahren in den Krieg gezogen waren, das Feld überlassen. Lokale Verbündete, die auf eine politisch demokratisierende und eine sozial emanzipierende Wirkung der westlichen Intervention gesetzt hatten, mögen von einem Gefühl des Verrats getroffen sein. Weltgeschichtlich mächtiger dürfte der Befund der amerikanischen Schwäche sein, die für alle rund um den Erdball offen zu Tage getreten ist.
Wie unbändig war die Selbstgewissheit, mit der man losmarschiert war, den militanten Islamismus an der Wurzel auszumerzen, wie dröhnend die Zuversicht, dass die Befreiten beeindruckt und dankbar die Werte des Siegers übernehmen und in sein Lager überlaufen werden! Erst durch die Rückblende in die Tage der Entschlossenheit nach dem 11. September 2001 beginnt die Dimension des Debakels vom August 2021 sichtbar zu werden.
Faktisch haben die zwanzig Jahre amerikanischer und europäischer Dominanz weite Segmente der afghanischen Bevölkerung in die Arme der Taliban getrieben, die sich im Moment ihres Sturzes im November 2001 keiner besonders großen Beliebtheit erfreut hatten.
Verbrecherische Züge der westlichen Intervention
Die westliche Militärbesatzung hatte verbrecherische Züge. Amerikanische und verbündete Soldaten machten sich des Mordes schuldig. Unbekümmerte Morde, sadistische Morde, Morde an ganzen Menschenansammlungen. Hinzukamen bestürzende Fälle fahrlässiger Tötungen von afghanischen Zivilisten. Während das passierte, hatten die Strategen und Befehlshaber dieses Feldzugs gegen den Terror keinen blassen Schimmer, wofür sie eigentlich kämpften, wie einige von ihnen später zugaben.
Die Exzesse der Militärs lassen Begründungen des Scheiterns in Afghanistan, wonach die (vom Westen eingesetzten) Regierungschefs und Minister in Kabul eigennützig und korrupt gehandelt und damit den Aufbau eines erfolgreichen Staatswesens verhindert hätten, bereits zweifelhaft erscheinen. Aber es kommt noch etwas anderes hinzu. Auf der zivilen Seite seines Afghanistanfeldzuges hat der Westen an die Schwarmintelligenz des Kapitalismus geglaubt. Dessen endgültiger Sieg lag 2001 ja erst zehn Jahre zurück, war also noch äußerst frisch und ermunternd.
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In Afghanistan schütteten die NATO-Staaten unglaubliche Summen Geld aus. Die Amerikaner zählen es heute in Billionen Dollar, die Deutschen in Dutzenden Milliarden Euro. Das lockte eine Vielzahl von Unternehmen und NGOs nach Kabul.
In ihrer Selbstdarstellung wollten sie beim Aufbau eines neuen Afghanistans "helfen". Moderne Verkehrswege, eine blühende Landwirtschaft, eine sichere Energieversorgung, so lauteten nur einige der Versprechen. Tatsächlich gingen die "Aufbauhelfer" dahin, wo schnell und leicht Geld zu verdienen war. Die NATO-Staaten waren zahlungskräftige Kunden, die besten, die man sich vorstellen konnte. Zumal der US-amerikanische Staat das grüne Licht seiner Haushaltspolitiker hatte, quasi unbegrenzt Schulden aufzunehmen. Im Krieg gegen den Terror fragte jahrelang kein Politiker nach der Höhe der Rechnung. Unter dem Strich kam so in Afghanistan kein Staatsaufbau zustande. Stattdessen bedienten sich viele verschiedene Einzelakteure üppig.
An dieser Stelle wird deutlich, dass es, neben den Taliban, durchaus noch den ein oder anderen Gewinner des Afghanistaneinsatzes gibt. Man konnte zum Beispiel die NATO und die afghanische Regierung "beraten", wie man den Mohnanbau für die Opiumproduktion durch eine ernährende Landwirtschaft ersetzt. Auch wenn die "Konzepte" nicht aufgingen: Die Beraterhonorare flossen.
A mind-blowing graphic in today's Times on what $85bn worth of lost equipment means in practice for the Taliban: pic.twitter.com/GDcuNQbb6P
— Will Brown (@_Will_Brown) August 29, 2021
„Der Westen hat verloren in Afghanistan. Aber für einige im Westen hat der Einsatz sich durchaus gelohnt“
Am meisten profitierten wohl die Hersteller von Drohnen, Militärfahrzeugen und automatischen Handwaffen. Die Fahrzeuge und die Gewehre sind jetzt größtenteils in der Hand der Taliban. Hier zeigt sich die Notwendigkeit der Differenzierung. Der Westen hat verloren in Afghanistan. Aber für einige im Westen hat der Einsatz sich durchaus gelohnt. Hat sich die korrupte afghanische Elite ihr Verhalten etwa abgeschaut? War ihr Verhalten möglicherweise im westlichen Sinne rational?
In Afghanistan hat sich also auch gezeigt, dass aus einer Vielzahl betriebswirtschaftlicher Partikularinteressen nicht unbedingt ein erfolgreiches Gemeinwesen entsteht. Das führt uns von der Dimension der Niederlage hin zu ihrer Symbolträchtigkeit.
In Afghanistan könnte auch der Neoliberalismus gescheitert sein. Der westliche Staat ist nur scheinbar stark. In Wahrheit schüttet er planlos geliehenes Geld aus, um die Probleme zu lösen, die dann doch nur noch größer werden. Wer in den 90er Jahren mit Recht gesagt hat, in Afghanistan sei nicht nur eine Armee - nämlich die Rote - geschlagen worden, sondern auch ein System gescheitert - nämlich der Sowjetkommunismus -, dem mögen sich heute ganz neue Quellen dialektischer Erkenntnis erschließen.
Symbolträchtig sind auch die Auftritte der politischen Klasse in Deutschland. Die scheidende Bundeskanzlerin beklagte in ihrer Afghanistan-Erklärung vor dem Bundestag, dass nun einige besserwisserisch behaupteten, der Zusammenbruch sei absehbar gewesen. Im Nachhinein sei es "nicht kompliziert", das festzustellen, so Angela Merkel.
Welch eine Verdrehung, welch eine Geschichtsfälschung liegen in diesem Merkelschen "Im Nachhinein"! Seit mindestens fünfzehn Jahren türmten sich die Berichte der Medien und auch der Regierungsbehörden, dass der Einsatz aus dem Ruder lief. Spätestens seit 2012, als der Truppenabzug sich abzeichnete, war das Problem der Ortskräfte auf dem Tisch. Die Bundesregierung hat sich und die Öffentlichkeit mit der beharrlichen Beteuerung betrogen, dass man "Fortschritte" mache in Afghanistan.
Wir müssen, angesichts des bösen Ausgangs, nach der Mustergültigkeit dieses Debakels fragen. Ist "Afghanistan" womöglich ein Symbol für andere Politikfelder? Auch in der Klimakrise tun die Entscheidungsträger so, als bekämpften sie das Übel zielgerichtet mit den geeigneten Gegenmitteln, als arbeiteten sie an Lösungen, als machten sie Fortschritte. Wir ahnen: Auch hier kann die Lage plötzlich ganz schnell kippen. Die Kabinettsminister könnten dann das Bild überforderter Hampelmänner abgeben und ein Bundeskanzler könnte sich über Besserwisser beklagen.
Aber vielleicht ist das falsch, weil die westlichen Entscheidungsträger dann schon gar keine mehr sein werden. Die "Entscheidungen" werden dann vielleicht schon woanders getroffen.
Zu Afghanistan hat China, anders als zu Taiwan, eine Landgrenze. "Le Chinois rigole" - "Der Chinese kichert", sagte dem Autor dieser Zeilen im Jahre 2002 ein französischer Geheimdienstchef im Ruhestand mit Blick auf den westlichen Krieg gegen den islamistischen Terror.
Vielleicht wird China Afghanistan als Einflusssphäre vom Westen erben. Dort lagern jedenfalls die Bodenschätze des digitalen Zeitalters und der Elektromobilität: Lithium, Seltene Erden, Kupfer. Vielleicht wird Afghanistan für China das, was Saudi-Arabien in den 40er Jahren für die USA war: Der Rohstofflieferant für den Aufstieg zur Weltmacht. Wenn es gut läuft.
© Qantara.de 2021
Der Autor arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Politikmagazin Panorama .
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