Krise in Gaza

Die Palästinenserführung steckt in der schwersten Krise seit zehn Jahren. Inzwischen wird selbst in den eigenen Reihen nicht mehr ausgeschlossen, dass der Machtkampf zu einem Bürgerkrieg führt. Hintergründe von Bettina Marx

Die Palästinenserführung steckt in der schwersten Krise seit zehn Jahren. Inzwischen wird selbst in den eigenen Reihen nicht mehr ausgeschlossen, dass der Machtkampf zu einem Bürgerkrieg führt. Bettina Marx mit Hindergründen

Jassir Arafat, Foto: AP
Jassir Arafat genießt noch immer hohes Ansehen

​​"Was im Gazastreifen geschieht, ist gefährlich", sagte der palästinensische Ministerpräsident Ahmed Kurei, "niemand kann in diesem Kampf gewinnen."

Der Machtkampf im Gaza-Streifen und in der palästinensischen Autonomiebehörde ist ein Kampf der Generationen und Fraktionen. Verschiedene Zweige der Fatah-Bewegung von Präsident Jassir Arafat und zwei politische Lager stehen sich gegenüber: die "alte" Führungsriege um Arafat, die nach dem Beginn des Oslo-Friedensprozesses aus dem tunesischen Exil in die palästinensischen Gebiete gekommen ist, und die jungen, aufstrebenden Politiker, die aus der ortsansässigen Bevölkerung selbst erwachsen sind.

Der Nachwuchs will nach vorn

Für die aufstrebenden Jungen steht Muhammad Dachlan, der starke Mann von Gaza. Er stammt aus dem Flüchtlingslager Chan Junis im südlichen Gaza-Streifen, war früher der Chef der präventiven Sicherheitskräfte und wurde dann, trotz des heftigen Widerstands von Arafat Innenminister in der Regierung Mahmud Abbas.

Als Abbas vor einem Jahr zurücktrat, schien auch die politische Karriere von Dachlan zunächst zu Ende. Doch erst kürzlich kehrte er von einem Studienaufenthalt im Ausland zurück und meldete auch schon bald wieder seinen Führungsanspruch an.

Nach Meinung vieler Beobachter steht er zumindest indirekt hinter den Ereignissen vom 16. Juli, die die Krise ausgelöst haben: Die jüngste Eskalation der Sicherheitslage begann mit der Entführung von zwei ranghohen Sicherheitsoffizieren und vier französischen Mitarbeitern einer Hilfsorganisation. Alle Geiseln wurden am Morgen danach wieder freigelassen. Arafat verhängte den Ausnahmezustand im Gazastreifen.

Korruption und Vetternwirtschaft

Muhammad Dachlan gilt als einer der bittersten Widersacher Arafats, und er verleiht den Unzufriedenen in der palästinensischen Gesellschaft eine Stimme. Die Unzufriedenheit greift immer mehr um sich. Sie richtet sich gegen die weit verbreitete Korruption in der palästinensischen Führung, gegen die Vetternwirtschaft Arafats, der trotz massiven internationalen Drucks nicht bereit ist, die Autonomie-Behörde grundlegend zu reformieren, gegen die fehlende Transparenz und den Stillstand in der palästinensischen Politik.

Die von Arafat unter dem Druck der eskalierenden Ereignisse im Gaza-Streifen verkündete Reform der Sicherheitskräfte wird nicht als ausreichend angesehen.

Der Zorn der Kritiker richtet sich vor allem gegen Mussa Arafat, einen Neffen des Präsidenten. Er wurde als neuer Polizei-Chef von Gaza eingesetzt. Außerdem sollte er für den Geheimdienst zuständig sein. In Gaza gilt Mussa Arafat allerdings als eine der korruptesten Figuren der palästinensischen Führung. Er soll in das weit verzweigte Schmuggelwesen zwischen Gaza und Ägypten verwickelt sein, und auch im Immobilien-Geschäft kräftig verdient haben.

Erst nach gewaltsamen Protesten hat Jassir Arafat die Ernennung rückgängig gemacht und den bisherigen Amtsinhaber General Abdel Rasek el Madscheida wieder eingesetzt.

Arafat ist immer noch der "Übervater"

Selbst in der palästinensischen Regierung wächst die Kritik am Führungsstil Arafats und an der Vetternwirtschaft. Minister Kaddura Faris verurteilte im israelischen Radio ganz offen die Korruption. Die Bevölkerung im Gazastreifen leidet zwar seit langem unter der immer schlechter werdenden Sicherheitslage und unter der dramatischen wirtschaftlichen Situation. Die Unruhen im Gazastreifen seien aber keine unmittelbare Gefahr für Präsident Jassir Arafat.

"Jassir Arafat ist das Symbol des palästinensischen Kampfes. Wenn es morgen Wahlen geben würde, würde er wieder die Mehrheit bekommen", erklärt Faris. "Das palästinensische Volk will, dass es weiter von Arafat geführt wird."

Nach einer Umfrage, die das palästinensische Zentrum für Politik und Meinungsforschung vor wenigen Wochen durchgeführt hat, ist Arafat mit weitem Abstand immer noch der beliebteste Politiker in den palästinensischen Gebieten. Gleichzeitig sprechen sich mehr als 90 Prozent der Bevölkerung für tiefgreifende Reformen der Autonomie-Behörde aus.

Bettina Marx

© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2004