Warnung an meine Brüder und Schwestern

Türkische Staatsbürger, die palästinensische Flaggen halten in Istanbul, Türkei.(Foto: Picture Alliance / ZUMAPRESS.com | Shady Alassar)
Es ist Zeit für andere Formen des Widerstands, die dem Geist der nationalen Befreiung entsprechen, schreibt Rajaa Natour (Foto: Picture Alliance / Zumapress | Sh. Alassar)

Wir Palästinenser*innen haben das Recht, uns gegen Israels Besatzung zu wehren. Der Hamas folgen muss man deshalb noch lange nicht, denn sie hat uns der systematischen Vernichtung ausgesetzt. Was wir brauchen, ist ein alternatives Nationalnarrativ.

Kommentar von Rajaa Natour

Wie bedauerlich, dass der aktuell vorherrschende palästinensische Diskurs jede innenpolitische Kritik an der Hamas zum Schweigen bringt. Dabei kommt immer dasselbe Argument: Jetzt, so heißt es, sei nicht der richtige Zeitpunkt, um die Bewegung zu kritisieren, die allein an der Spitze des Kampfes gegen die Besatzung steht.

Dieser Sichtweise zufolge müssen wir uns auf absehbare Zeit der mörderischen islamistischen Ideologie der Hamas anschließen und das säkulare nationale palästinensische Narrativ ignorieren. All jene, die den säkularen Vorstellungen folgen – und das ist die Mehrheit der Palästinenser und Palästinenserinnen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gazastreifens – müssen sich gegen die eigene Haltung positionieren.

Die wenigen, die es bislang gewagt haben, die Hamas, ihre Methoden und die Folgen des 7. Oktobers für den Gazastreifen zu kritisieren, werden stets mit dem Slogan konfrontiert, den die Hamas jedoch völlig sinnentleert hat: „Wir haben das Recht auf Widerstand!“ Dieser Satz wird bis heute als die ultimative Antwort auf jeden ethischen, moralischen und politischen Versuch angesehen, die banale Definition des Widerstands der Hamas infrage zu stellen.

Es ist, als sei „Wir haben das Recht auf Widerstand“ nicht nur eine temporäre Maßnahme, sondern ein göttliches Gebot. Wichtig ist mir, an dieser Stelle festzuhalten, dass ich unser grundsätzliches Recht als Palästinenser und Palästinenserinnen, uns gegen die Besatzung zu wehren, keinesfalls infrage stelle. Es ist ein Recht, das im Völkerrecht verankert ist.

Zerstörung als Erfolgsmaßstab

Worüber ich jedoch streite, ist die Definition, sind die Methoden, die die Hamas dem palästinensischen nationalen Narrativ und den Generationen, die ihm blindlings gefolgt sind, aufgezwungen hat. Wichtig ist auch festzuhalten, dass diese Kritik Israel keinesfalls von der Verantwortung für die unsägliche Vernichtung des Gazastreifens entbinden soll.

Für die Hamas umfasst der Satz „Wir haben das Recht auf Widerstand“ die Zerstörung, die Auslöschung ganzer Familien im Gazastreifen als notwendigen Preis auf dem Weg zur ersehnten nationalen Befreiung. All die Verluste und Zerstörungen bringen uns dieser Interpretation zufolge unseren Zielen näher. Je massiver und tragischer die Verluste sind, desto größer sei die Chance für die nationale Befreiung. Demnach sind wir nach dem Völkermord in Gaza nur noch zwei Schritte von der Befreiung entfernt.

Die Hamas hat diese Verluste zum einzigen Maßstab für den Erfolg des palästinensischen Kampfes gegen die Besatzung gemacht. Und wir sollen dem Preis, den sie fordert, ohne Fragen oder Vorbehalte zustimmen. Die Hamas hat die Körper der Palästinenser zu einem Werkzeug gemacht, um ihre politischen Ansichten durchzusetzen, und zum einzigen Werkzeug im Kampf für die nationale Befreiung.

Sie hat die Palästinenser und Palästinenserinnen an vorderster Front des Widerstands alleingelassen und sie der systematischen Vernichtung ausgesetzt. Und zwar nicht nur, weil sie alle Bewohner*innen des Gazastreifens für das Blutbad vom 7. Oktober verantwortlich gemacht hat. Sie hatte nie vor, sie zu schützen. Der Plan war von Beginn an, die Menschen im Gazastreifen für die eigenen Ziele zu benutzen.

Ich warne meine palästinensischen Schwestern und Brüder vor dem gefährlichen Weg des Widerstands, den die Hamas propagiert und praktiziert. Gefährlich nicht nur, weil die islamistische Bewegung ihre Version des Widerstands instrumentalisiert, um interne palästinensische Kritik zum Schweigen zu bringen. Gefährlich, weil sie die „Schahid"-Industrie, den Märtyrertod, verherrlicht. Gefährlich, weil sie den Palästinenser*innen als göttliches Gebot präsentiert wird.

Der Hamas fehlt der politische Horizont

Wer sich dagegenstellt, untergräbt die Legitimität des Projekts der nationalen Befreiung, die einzig durch den bewaffneten Kampf und die damit verbundenen Kollateralschäden zu erreichen sei. Wir sollten uns diesen Geboten nicht unterwerfen und uns nicht mit unseren legitimen ethischen und humanitären Fragen zum Schweigen bringen lassen.

Wir sollten unsere Denkprozesse vorantreiben und andere Wege suchen, die nicht über die Leichen von zigtausenden Palästinenser*innen führen. Ich appelliere an Euch, meine palästinensischen Schwestern und Brüder: Es ist an der Zeit zuzugeben, dass die Hamas keinen politischen Horizont hat. Es ist an der Zeit, die gescheiterte Interpretation des Widerstands zurückzuweisen.

Es ist an der Zeit, die Definitionen, Interpretationen und Praktiken zurückzuweisen, die das katastrophale Narrativ vom 7. Oktober als Widerstand wiederholen. Wir dürfen nicht länger mit der Idee einhergehen, dass die Hamas gerettet und ihre Führung rehabilitiert werden muss, während sie weiter den Gazastreifen beherrscht. 

Vor allem müssen wir uns fragen, wie in aller Welt der 7. Oktober als Widerstandsnarrativ unter den Palästinenser*innen und in der weiteren arabischen Welt legitimiert werden konnte, wenn auch nur teilweise. 

Was sagt das über uns und unser Narrativ aus?

Jetzt ist die Zeit gekommen für eine andere Form, für andere Methoden des palästinensischen Widerstands, die dem Geist der nationalen Befreiung entsprechen, von der wir träumen. Jetzt ist es an der Zeit, dem Ethos des nationalen Widerstands eine neue Bedeutung zu verleihen. Unsere einzige Chance zu überleben besteht darin, einzusehen, dass die vorherrschende nationale Erzählung, die auf Opfermythos und Selbstgerechtigkeit beruht, nicht mehr funktioniert.

Wir werden nur überleben, wenn wir uns auf den Weg machen, ein alternatives palästinensisches Narrativ zu schaffen, in dem kein Platz für israelisches oder anderes Blut ist.

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung der englischen Fassung, die zuerst in der israelischen Tageszeitung Ha'aretz erschienen ist. 

 

© Qantara.de/Taz