Mit eiserner Faust regieren
1993 unterzeichnete die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) das Oslo-Abkommen über eine vorübergehende Selbstverwaltung, das dem Palästinenserführer Jassir Arafat die Rückkehr in Teile des Gazastreifens und des Westjordanlandes ermöglichte, wo der Palästinensische Legislativrat und die Palästinensische Autonomiebehörde gegründet und der Palästinensische Nationalrat gewählt wurden. Diese Rahmenvereinbarung sah eine Übergangszeit von fünf Jahren vor, die letztlich zu einer friedlichen Übereinkunft auf Grundlage der Resolutionen 242 und 338 des UN-Sicherheitsrates führen und in die Errichtung eines palästinensischen Staates münden sollte.
Aktuell sind die Palästinenser allerdings schlechter dran als je zuvor. Sie haben keinen Staat, keine funktionierende Autonomiebehörde, keine Souveränität und keine Selbstbestimmung. Stattdessen haben sie zwei neue autoritäre Regime in einem Doppelgebilde unter israelischer Besatzung: Die Hamas im Gazastreifen und die Fatah im Westjordanland.
In beiden Gebieten leidet das palästinensische Volk nicht nur unter der anhaltenden israelischen Besetzung, sondern auch unter den beiden Regimen, die die Gebiete mit eiserner Faust regieren. Die Hamas im Gazastreifen kontrolliert das besetzte Gebiet seit 2007. Damals wurden die Truppen der Palästinensischen Autonomiebehörde nach heftigen Zusammenstößen mit den Kassam-Brigaden – der militärischen Untergrundorganisation der Hamas – ausgeschaltet.
"Eine weitere vergeudete Generation"
Seitdem übt die Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen aus, festigt ihre Macht und ignoriert das Leid ihres eigenen Volkes. Die politisch opportunistische Hamas regiert Gaza jetzt auf Kosten einer weiteren vergeudeten Generation.
In jüngster Zeit nimmt der Druck auf die Hamas und die Menschen im Gazastreifen zu. Engpässe bei der Elektrizitätsversorgung, die fortwährende israelische Besetzung, Gehaltskürzungen und die Einführung von Zwangsvorruhestandsregelungen für Mitarbeiter der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), die ihre Gehälter direkt aus Ramallah beziehen, lähmen die Wirtschaft im Gazastreifen.
Dies hinderte die Hamas allerdings nicht daran, junge Menschen zu verhaften, die auf die Straße gingen und über die sozialen Medien nach funktionierenden öffentlichen Diensten verlangten und für ein Ende der Teilung demonstrierten. Die Hamas beschuldigte die inhaftierten Aktivisten und Journalisten des "Technologiemissbrauchs".
Die Sozialen Medien – von der Bevölkerung Gazas seit Langem als Ventil zur Meinungsäußerung genutzt – sind jetzt das Ziel der Hamas geworden, während die Hamas gleichzeitig als faktische Friedenstruppe an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel agiert. Unter der Vermittlung Qatars arbeitet sie mit Israel in mehrfacher Hinsicht zusammen. Einigen Quellen zufolge soll diese Zusammenarbeit eine Eskalation im Gazastreifen verhindern – einem Gebiet, das noch immer unter dem Krieg von 2014 leidet. Gleichzeitig soll dort die humanitäre Hilfe erleichtert werden.
Während die Hamas einerseits ihren Zugriff auf den Gazastreifen verstärkte, traf sie andererseits mit ihrem langjährigen Erzfeind Mohammed Dahlan zusammen. Unterstützt von Ägypten erzielten beide Parteien eine Verständigung, die der geschwächten Hamas neues Leben einhauchte.
Somit könnte sich die politische Spaltung zwischen der Hamas und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas vertiefen, während gleichzeitig die Lage für die im Gazastreifen ansässigen Fatah-Mitglieder, die Abbas nahestehen, noch prekärer würde.
Politischer Opportunismus auf Kosten des Gemeinwohls
Abbas greift derzeit zu harten Maßnahmen, die den Bildungs- und Gesundheitssektor im Gazastreifen gefährden werden. Die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah kürzte Gehälter und zwang Tausende von Beschäftigten des öffentlichen Sektors in den Vorruhestand. Doch weder die Hamas noch irgendeine andere Gruppe ist in der Lage, deren Aufgaben zu übernehmen.
Dieser Schritt der Palästinensischen Autonomiebehörde dürfte weitreichende soziale und wirtschaftliche Folgen für die Bevölkerung im Gazastreifen haben und die Armut noch vergrößern. Wie der Wirtschaftskommentator Omar Shaban in einem Gespräch mit Al Jazeera sagte: "Die stagnierende Wirtschaft im Gazastreifen muss durch Bewegung auf den Märkten stimuliert werden. Doch ohne Lohn können die Arbeiter ihre Schulden nicht an die Ladenbesitzer zurückzahlen, weshalb allen das Wasser bis zum Hals stehen wird."
In den vergangenen Wochen riet der militärische Flügel der Hamas führenden Hamas-Politikern zur Schaffung eines "politischen Vakuums", um damit den Weg für die militärische Herrschaft im Gazastreifen frei zu machen. Im Rahmen dieses Plans soll die Hamas auf ihre politische Macht über den Gazastreifen verzichten. Gleichzeitig würden von der Hamas geführte Sicherheitskräfte ihre bisherigen Tätigkeiten einstellen und nur zivile Missionen durchführen. Der militärische Flügel der Hamas würde später in das resultierende Sicherheitsvakuum im Gazastreifen stoßen und mit seinen Milizen die gesamte Region besetzen.Derartige militärische Ambitionen sind nicht nur riskant, sie dürften auch das Leben Dutzender Palästinenser im Gazastreifen gefährden. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der militärische Flügel der Hamas während des israelischen Angriffs auf Gaza im Jahr 2014 Dutzende Zivilisten ohne Vernehmung und ohne Gerichtsverfahren hinrichtete.
Schon während der ersten Intifada wurden Dutzende (wenn nicht Hunderte) wegen Geringfügigkeiten hingerichtet, wie beispielsweise Besitz von pornografischen Videos, Drogenkonsum oder sogar der Arbeit auf israelischen Ländereien oder im israelischen öffentlichen Dienst. In vielen Fällen erwiesen sich die Vorwürfe als persönlich motiviert und unbegründet.
Im Westjordanland stellt derweil die von der Fatah dominierte palästinensische Autonomiebehörde die persönlichen Belange über den nationalen Willen der Palästinenser. Abbas und sein Sicherheitsapparat haben die Palästinensische Autonomiebehörde in ein staatliches Instrument zur Zementierung des Status quo verwandelt, das der israelischen Besetzung in die Hände spielt und diese verlängern wird.
In der ersten Augustwoche verhaftete die Palästinensische Autonomiebehörde fünf Journalisten im Westjordanland wegen angeblicher "Preisgabe vertraulicher Informationen". Die Verhaftung war als Vergeltungsmaßnahme gegen die Verhaftung des Fatah-Journalisten und Aktivisten Foad Jarada zwei Monate zuvor gedacht und besiegelte lediglich einen Tauschvertrag mit der Hamas-Führung im Gazastreifen.
Grundfreiheiten untergraben
Die Festnahme erfolgte im Rahmen des neuen palästinensischen Gesetzes über die Internetkriminalität. Letzteres wurde von Präsident Abbas ohne Konsultation der Zivilgesellschaft und ohne öffentliche Begründung bestätigt. Unter dem Deckmantel der Kriminalitätsbekämpfung schränkt das Gesetz die Meinungsfreiheit ein und ermöglicht willkürliche Verhaftungen. In den ersten Tagen nach dessen Umsetzung hat die Palästinensische Autonomiebehörde mehr als ein Dutzend Websites gesperrt, die der Hamas und Mohammed Dahlan nahestehen. Die neue Gesetzgebung entspringt einem autoritären Regime.
Sie zielt darauf ab, die Meinungsfreiheit in sozialen Medien und auf Online-Plattformen einzuschränken, die sich bei der Sensibilisierung und bei der Informationsverbreitung bewährt haben.
Infolgedessen sehen sich die Palästinenser jetzt zwei verschiedenen Regimen gegenüber, die ihre Meinungsfreiheit untergraben und harte Maßnahmen zur Eindämmung ihrer nationalen Ambitionen durchsetzen. Man kann für die nächsten Jahre davon ausgehen, dass dies die Regel sein wird. Denn beide Seiten werden ihr Bestes tun, um den Status quo aufrechtzuerhalten und ihre eigenen Interessen zu bedienen.
Die Palästinenser werden weiter leiden, nicht nur unter der israelischen Besetzung, sondern auch unter der harten Hand ihrer eigenen Gremien und politischen Parteien. Anstatt neue Lösungen und Strategien gegen die zunehmend schlechte Lage zu finden, die lediglich Israel zugutekommt, ziehen es die Machthabenden offenbar vor, ihr eigenes Volk mit eisernem Stab zu regieren.
Abdalhadi Alijla
© Qantara.de 2017
Abdalhadi Alijla ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Università degli Studi di Milano und Leiter des Institute of Middle Eastern Studies Canada (IMESC). Er ist zudem Regionalleiter für die Golfstaaten am Institut "Varieties of Democracy" der Universität Göteborg, Schweden.
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers