Gaza - eine Stadt, die niemand will
Für Palästinenser ist der Jahrestag der Gründung des Staates Israel gleichzeitig die "Nakba", wie "Katastrophe" auf Arabisch heißt. Dieses Jahr jährt sich zum 68. Mal die Flucht und Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina, woraus Israel zum Teil hervorging. Heute sind wir Zeuge einer neuen "Nakba" in Form der politischen Spaltung zwischen Hamas und Fatah.
Der Alltag der Menschen in Gaza wird an einem galligen Witz deutlich: "Neulich hat die Polizei in Gaza jemanden wegen unerlaubter Hoffnungen verhaftet." Keine Hoffnung. Keine Zukunft.
Der Grenzübergang von Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten wurde kürzlich nach dreimonatiger Schließung für ganze zwei Tage geöffnet. 30.000 Menschen hatten sich zuvor für den Grenzübertritt registrieren lassen. Lediglich 747 wurden von der ägyptischen Grenzpolizei nach Ägypten durchgelassen.
Unter normalen Umständen dauert die Busfahrt fünf Minuten. Die Erledigung der Formalitäten eingerechnet, vielleicht eine Stunde. Jetzt dauert die Passage mehr als 24 Stunden und bisweilen sogar 48 Stunden. Hunderte Palästinenser werden auf der ägyptischen Seite von Rafah wie Gefangene festgehalten. Ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte.
Palästinenser aus Gaza als Feinde Ägyptens
Von 1948 bis 1967 stand Gaza unter ägyptischer Verwaltung. Damals entwickelten sich enge Bindungen nach Ägypten. Dazu trug auch die Aufnahme von Studenten aus Gaza an ägyptischen Hochschulen bei. Heute hat sich das Bild grundlegend gewandelt: Die Menschen aus Gaza gelten in Ägypten als Feinde.
Vergangenes Jahr untersagten mir israelische Sicherheitsbehörden die Einreise nach Palästina. Und doch widerfuhr mir damals eine weit bessere Behandlung als alles, worauf sich Palästinenser an ägyptischen Flughäfen und Grenzübergängen einstellen müssen. Nachvollziehbar ist dies nicht, denn Palästinenser trugen nie einen Konflikt mit der ägyptischen Armee aus. Ganz im Unterschied zu Jordaniern, Libanesen und Syrern.
Warum also behandelt Ägypten Palästinenser aus Gaza derart schlecht? Warum gelten Palästinenser in Ägypten als Menschen zweiter Klasse? Auch wenn man unterstellt, dass die ägyptische Regierung ihre eigenen Bürger nicht besser behandelt, fragt man sich doch, warum ausgerechnet die Palästinenser Zielscheibe solcher Feinseligkeiten werden. Schließlich geht es nur um die Überquerung der Grenze zur Durchreise in andere Länder.
Offenbar will Ägypten damit eine klare Botschaft an alle Beteiligten aussenden: "Gaza interessiert uns nicht. Auch nicht die Einwohner von Gaza oder deren Probleme. Sollen die sehen, wie sie klarkommen."
Die genannten Probleme betreffen nicht nur die Grenze im Süden, sondern auch die nach Jordanien. Als das israelische Militär damit begann, Einwohnern von Gaza die Reise über das Westjordanland nach Jordanien zu erlauben, führte Jordanien strengere Sicherheitsmaßnahmen ein. Nicht nur Einwohnern aus Gaza wurden Visa verweigert, sondern auch Bewohnern des Westjordanlands, die ursprünglich aus Gaza stammen. Die Entscheidung ging einher mit der Maßgabe Israels, Palästinensern die Wiedereinreise erst nach Ablauf eines Jahres zu erlauben. Ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte. In Jordanien befürchtete man offenbar, dies könnte einer kalten Abschiebung von Palästinensern nach Jordanien gleichkommen.
Mit zweierlei Maß
Dennoch erklärt das nicht die Tatsache, dass Einwohner aus Gaza Visa benötigen, während in Jordanien lebende Palästinenser volle Freizügigkeit genießen. Gaza richtet sich seit jeher nach Ägypten aus – das Westjordanland nach Jordanien. Genießen Palästinenser aus dem Westjordanland daher mehr Vertrauen als ihre Vettern aus dem Gazastreifen? Falls ja, darf man annehmen, dass Gaza als Sicherheitsrisiko gilt und dass Jordanien die Einwohner Gazas als Bedrohung empfindet.
Entscheidend für Gaza ist die Rolle Israels. Zwischen 2008 und 2014 hat das israelische Militär in drei Kriegen mehr als 5.000 Palästinenser getötet. Israel würde das Westjordanland am liebsten annektieren, sodass den Palästinensern nur noch der Gazastreifen als Staatsgebiet bliebe. Der US-Wissenschaftler Martin Gouterman schlug 1987 vor, Gaza zum Singapur des Nahen Ostens zu machen.
Der ehemalige israelische Ministerpräsident Ariel Scharon verfolgte bereits 2004 den Plan, die Gründung eines Staates Palästina zu unterbinden und einen Staat im Gazastreifen zu dulden. Damit wollte er Verhandlungen umgehen und Gespräche zu den Konfliktpunkten Flüchtlinge, Jerusalem und Grenzverlauf verhindern.
Auch heute noch unternimmt die israelische Regierung alles, um Gaza loszuwerden oder die Grenzen auf unbestimmte Zeit zu schließen. Das Problem ist nicht nur die Hamas, sondern auch die Geschichte der Beziehungen zwischen den Bewohnern des Gazastreifens und der Besatzung.
Gleiches gilt für die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) und die formale Verwaltung durch die Fatah in Ramallah. Beide sind nicht daran interessiert, die Regierungsmacht über den von der Hamas kontrollierten Gazastreifen zurückzuerhalten Zwar sind Versöhnungsgespräche zwischen der Hamas und der Fatah geplant, aber die Palästinensische Autonomiebehörde kann weder der Hamas noch den Einwohnern von Gaza irgendwelche Positionen, diplomatisches Personal oder sonstigen Vorteile garantieren.
In Ramallah und in den Reihen der palästinensischen Regierung gilt Gaza als eine Art Krätze, der niemand zu nahe kommen will. Folglich haben in Ramallah nur diejenigen Aussicht auf lukrative Posten, die nicht aus dem Gazastreifen stammen. Das bezeugt eine Feindseligkeit nicht allein gegenüber der Hamas, sondern auch gegenüber Gaza im Allgemeinen: Der Gazastreifen und das Westjordanland werden ganz systematisch nicht als eine Einheit, als ein Volk oder als ein künftiger Staat betrachtet.
Der Willkür der Hamas ausgeliefert
Es scheint, die Einwohner Gazas sind ihrem Schicksal überlassen und der Willkür der Hamas ausgeliefert. Eine solche Politik macht aus Gaza langsam aber stetig eine Brutstätte für Radikale, die zu explodieren droht.
Die Spaltung zwischen Hamas und Fatah, die Belagerung von Gaza und die halsstarrige Führung der Hamas haben katastrophale Folgen für den Gazastreifen: hohe Arbeitslosigkeit, steigende Selbstmordraten, unzureichende Versorgung mit Strom, Wasser und medizinischer Betreuung, prekäre soziale Lage, steigende Armut, hohe Steuern auf lebensnotwendige Güter (verhängt von der Hamas), Korruption, Misstrauen, politische Unterdrückung und willkürliche Festnahmen unter Aktivisten.
Wer diese Zustände und die damit verbundenen Risiken ändern will, muss handeln – und zwar jetzt. Die Welt sollte Gaza nicht als humanitäre Krise begreifen, sondern als politische. Die Palästinensische Autonomiebehörde muss Gaza als eine Einheit behandeln, die Teil ihres Mandats ist. Und sie muss für die Interessen und die Bedürfnisse der Bewohner Gazas eintreten.
Stattdessen arbeitet die PA für eine kleine Gruppe von Menschen, die zur neuen Bourgeoisie Gazas geworden ist, während die große Mehrheit weiter in Not und Elend lebt. Ägypten und Jordanien sollten ihren Umgang mit den Menschen aus Gaza überdenken. Nicht alle sind ein Sicherheitsrisiko. Zumal niemand es sein müsste, wenn allen der Weg zu grundlegenden Menschenrechten offen stände.
Der Autor und Aktivist Mahmoud Jouda aus Rafah schrieb auf seiner Facebook-Seite:
"Hört auf niemanden, der euch weismachen will, in Gaza gäbe es Hoffnung. Eine mögliche politische Versöhnung wird schon deshalb nicht funktionieren, weil sie auf einer quotenbasierten Teilung der politischen Gewalt beruhen würde, was zum Scheitern verurteilt ist. Gazas Problem beschränkt sich nicht auf seine geografischen Grenzen. Gaza ist ein sinkendes Schiff. Die einzig mögliche Lösung ist eine ganz persönliche: Verlasse das sinkende Schiff, bevor du stirbst."
Dies ist die schmerzhafte Wirklichkeit von Gaza und die Geschichte einer Stadt, die niemand will.
Abdalhadi Alijla
© OpenDemocracy 2016
Abdalhadi Alijla ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Università degli Studi di Milano und Leiter des Institute of Middle Eastern Studies Canada (IMESC). Er ist zudem Regionalleiter für die Golfstaaten am Institut "Varieties of Democracy" der Universität Göteborg, Schweden.
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers