Können die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden?
Sechs Monate nach dem Waffenstillstand, der die Feindseligkeiten zwischen Israel und der Hamas offiziell beendet hat, liegt Gaza noch immer in Trümmern. Nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) wurden während des 52-tägigen Krieges 2.205 Palästinenser getötet. Fast 70 Prozent von ihnen waren Zivilisten, darunter 521 Kinder und 283 Frauen. Auch 71 Israelis starben, davon 66 Soldaten. Aber Zahlen allein sind nicht die ganze Wahrheit. Für die Suche nach Verantwortlichen sind sie nicht entscheidend.
Nach der Unterzeichnung des Rom-Statuts durch den palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas Ende letzten Jahres wird Palästina am 1. April 2015 vollständiges Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs. Damit kann das Land gegen Kriegsverbrechen im letzten Gaza-Krieg und im Westjordanland rechtliche Schritte einleiten.
Im Januar 2015 begann der Ankläger des Gerichtshofs mit einer Erstermittlung der Ereignisse von Gaza, im Rahmen derer das Verhalten Israels und der Hamas untersucht werden soll.
Die israelische Regierung hat den Zugang zum Gaza-Streifen für unabhängige externe Fachleute und Ermittler stark eingeschränkt. Während der Offensive wurde den beiden großen internationalen Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch die Einreiseerlaubnis nach Gaza verwehrt. Später durfte auch eine Delegation des UN-Menschenrechtsrats (UNHRC) nicht einreisen. Als Grund dafür wurde ein angeblicher Interessenkonflikt des Ermittlungsleiters angegeben, der deswegen zum Rücktritt aufgefordert wurde.
Die einzige Organisation, die während und kurz nach der Offensive internationale Experten nach Gaza gesendet hat, war wohl die israelische Sektion der internationalen NGO Ärzte für Menschenrechte. Ihr Mandat bestand darin, "die Einflüsse der Ereignisse im Gaza-Streifen auf Gesundheit und Menschenrechte zu untersuchen".
Ein Team von acht internationalen Medizin-Experten, darunter vier mit Kenntnissen in forensischer Pathologie, führten während dreier Besuche im Gaza-Streifen zwischen dem 19. August und den 12. November 2014 Interviews durch und sichteten Beweismaterial. Diese Besuche wurden durch drei ortsansässige NGOs ermöglicht: das Al-Mezan-Zentrum für Menschenrechte, das Programm für Mentale Gesundheit der Gaza-Gemeinschaft (GCMHP) und das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte in Gaza (PCHR).
"Doppelanschläge" auf Rettungsteams
Bei der Untersuchung von Verletzungs- und Angriffsmustern enthüllt der Bericht ein "durchgängiges Muster der Verletzung oder Tötung von Menschen, die sich in ihren Wohnungen oder in deren nächster Nähe aufhielten". Forensische Pathologen untersuchten 370 Digitalbilder aus dem Shifa-Krankenhausarchiv in Gaza-Stadt und interviewten 68 verletzte Patienten. Dabei gelangten sie zu dem Ergebnis, dass die meisten Verletzungen durch Explosionen oder Stöße verursacht worden waren.
Eins der wichtigsten Ergebnisse des Berichts ist, dass weitere Verluste bei Rettungs- und Ärzteteams sowie bei Menschen auf der Flucht aus ihrem Haus durch Doppel- oder Mehrfachangriffe (zwei oder mehr aufeinander folgende Angriffe am selben Ort) verursacht wurden.
Ein befragter Sanitäter, Akram Al-Awoor, wird im Bericht wie folgt zitiert: "Der Krieg von 2014 war der mit Abstand schwierigste aller drei Kriege, die ich als Sanitäter des Palästinensischen Roten Halbmonds miterlebt habe – die Menge an Verletzten war enorm, und auch Helfer und Ambulanzen wurden angegriffen. Oft erfolgte nach einem Erstschlag, wenn Menschen sich um die Opfer versammelten und ihnen zu helfen versuchten, noch ein zweiter Angriff."
In einer der Fallstudien erinnert sich ein Sanitäter daran, wie er im Stadtteil Shejaia im Osten von Gaza-Stadt am 20. Juli direkt beschossen wurde, während sein Team versuchte, nach einem Anschlag mit vielen Todesopfern die Verwundeten zu bergen. Ein anderer Sanitäter kam bei diesem Beschuss ums Leben. Diese Aussage kann mit Medienberichten und anderen Zeugenaussagen abgeglichen werden.
Laut einer Wirkungseinschätzung unter der Leitung der WHO starben in direkter Folge des Konflikts 23 Gesundheitshelfer, davon 16 während ihres Einsatzes. Weitere 83 wurden verletzt. 17 Krankenhäuser und 56 gesundheitliche Erstversorgungszentren wurden während der Angriffe entweder zerstört oder beschädigt.
Die israelische Armee kritisierte den Bericht, er beruhe "auf einseitigen und falschen Daten aus voreingenommenen Quellen", hieß es. In einer Erklärung sagte ein Armeesprecher, der Bericht "scheine den übergeordneten Kontext des heftigen Bodenkampfes während der Operation zu vernachlässigen", im Rahmen dessen "die Hamas systematisch und absichtlich zivile Objekte wie medizinische Einrichtungen, Ambulanzen und andere zivile Infrastruktur für eine Vielzahl militärischer Zwecke benutzt hat".
Was ist ein legitimes militärisches Ziel?
Der Bericht der Ärzte für Menschenrechte kommt zu dem Schluss, die Angriffe seien durch "schwere und unvorhersagbare Bombardierungen ziviler Wohnblöcke charakterisiert" gewesen, und dies in einer Weise, "die nicht zwischen legitimen Zielen und der geschützten Bevölkerung unterschied". Solche Angriffe seien "wahrscheinlich nicht das Ergebnis der Entscheidung einzelner Soldaten oder Kommandeure gewesen, sondern müssen mit der Zustimmung von Entscheidungsträgern der obersten Ebene der israelischen Armee und/oder Regierung erfolgt sein".
Die Militärpolizei der israelischen Armee hat unter der Leitung des für das Militär zuständigen Generalanwalts zu einigen der Vorkommnisse Untersuchungen eingeleitet. Aber selbst wenn man von einem inhärenten Interessenkonflikt und der mutmaßlichen Ineffizienz des Systems absieht, bleibt das Problem, dass die Militärpolizei mit ihren Untersuchungen zwar für das Verhalten der Truppen zuständig ist, aber keine Befugnis hat, in höheren Dienstebenen zu ermitteln.
"Leider gibt es in Israel keine Methode, um zum Kern dieses Problems vorzustoßen", meint Sarit Michaeli von der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem, die im Januar einen Bericht veröffentlicht hat, in dem 70 einzelne Fälle untersucht wurden, bei denen mindestens drei Menschen in ihren Wohnungen durch Angriffe getötet wurden.
"Wir reden hier nicht über einen gelegentlichen Fehler oder Fehlentscheidungen eines einzelnen Soldaten, sondern über das Resultat einer offiziellen Politik, die diese Wohnhäuser zu legitimen militärischen Zielen erklärt hat", so Michaeli.
Was ist ein Kriegsverbrechen?
Laut internationalem humanitärem Völkerrecht ermöglicht die Tötung von Zivilisten per se noch nicht automatisch eine Anklage wegen Kriegsverbrechen. Artikel 8.2(b) (iv) des Rom-Statuts definiert ein Kriegsverbrechen als einen "absichtlichen Angriff in dem Wissen, dass dieser zur Folge hat, dass Zivilisten getötet oder verletzt, zivile Objekte beschädigt oder umfassende, langfristige und schwere Schäden an der natürlichen Umwelt verursacht werden, die im Verhältnis zum absehbaren, konkreten und direkten militärischen Vorteil eindeutig unangemessen hoch sind".
Das Problem liegt laut Michaeli darin, dass man zur Prüfung, ob ein Angriff in Bezug auf seinen erwarteten militärischen Nutzen angemessen ist "wissen muss, was der tatsächliche Zweck der Operation war und auf wen dieser abzielt. Die Bereitschaft der israelischen Armee, Informationen zur Verfügung zu stellen, ist aber sehr gering", so Michaeli.
Kaum ein Experte ist bereit, die aktuelle Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs zu kommentieren. Allerdings scheint klar zu sein, dass die Anklage gegen die Führung der Hamas aufgrund ihrer absichtlichen Angriffe auf zivile Infrastruktur viel einfacher sein dürfte. Und dann gibt es noch das Problem der Glaubwürdigkeit und Voreingenommenheit: "Bei diesen Untersuchungen geht es in erster Linie darum, dass sie nicht nur unparteiisch, sondern auch unparteiisch erscheinen müssen", glaubt Sarit Michaeli von B'Tselem.
Ylenia Gostoli
© Qantara.de 2015
Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff