Gutmenschen aller Länder, vereinigt euch!
Obwohl in Deutschland wenig bekannt, hat das Parlament eine 125jährige Geschichte aufzuweisen: Erstmals fand es 1893 als Beiprogramm zur Weltausstellung in Chicago statt. Zum ersten Mal in der neueren Geschichte versammelten sich religiöse Vertreter aller großen Religionen, um über Fragen des Glaubens zu debattieren.
Das Treffen markierte den Beginn der Popularität asiatischer Religionen im Westen. Besonders die hinduistischen und zen-buddhistischen Vertreter machten von sich reden. Nur der Islam kam zu kurz, da der Sultan in Istanbul dem Projekt skeptisch gegenüber stand und offiziellen muslimischen Gelehrten die Teilnahme untersagte. Er witterte hinter dem Projekt den Versuch christlicher Mission.
Verzicht auf gegenseitige Missionierung
Diese Zeiten sind jedoch vorüber. Seit das Parlament 1993 wiederbelebt wurde – unter anderem vom deutschen Theologen Hans Küng –, sind nicht nur Muslime zahlreich auf dem Parlament vertreten, das alle drei bis vier Jahren an wechselnden Orten stattfindet. Es will auch niemand mehr missionieren. Stattdessen hat sich das Parlament mit großer Entschiedenheit den politischen Fragen der Gegenwart verschrieben und an seiner progressiven Einstellung dazu keinen Zweifel gelassen.
Miguel de la Torre, ehemaliger Direktor der "American Academy of Religion" und Professor für Sozialethik in Denver, scheute sich nicht, jede Religion als "satanisch" zu bezeichnen, welche Unterdrückung und Gewalt rechtfertigt. Er erzählte, wie er als junger Mann die Polizisten entschuldigte, die ihn als Latino anhielten, um seinen Wagen auf Kokain zu durchsuchen. Sei es nicht gut, dass sie den Drogenhandel bekämpften? Dies redete er sich jedenfalls ein.
Wenn die Selbstkolonisierung dazu führt, dass man sich selbst mit den Augen des Unterdrückers sieht, sei es besser, sich eine andere Weltsicht zu suchen, was auch immer die anderen davon hielten. Nur durch Widerstand wahre man seine Würde, seine Menschlichkeit, entdecke seinen Glauben.
Hätte er das Wort "Glauben" nicht hinzugefügt, wir hätten uns wie bei vielen Rednern eher auf dem Parteitag einer globalen grünen Bewegung als auf dem Parlament der Religionen gewähnt. Mit Kritik an den rückwärtsgewandten, patriarchalen Strömungen in den Religionen wurde nicht gespart.
Bemerkenswert allerdings: Niemand zeigte mit dem Finger auf den anderen, sondern Kritik war immer auch Selbstkritik. Für den Islam übernahmen diese Aufgabe bezeichnenderweise zwei bemerkenswerte Frauen: Sakena Yacoobi aus Afghanistan, seit 1995 in der Frauenbildung in aktiv, und Ingrid Mattson, die langjährigen Präsidentin der "Islamic Society of North America".
Kampf gegen Mädchenheirat
Yacoobi schildert, welche Hebel sie in Bewegung setzen musste, um ein Mädchen zur Familie zurückzuholen, das an einen viel älteren Großgrundbesitzer verheiratet wurde. Dieser verschanzte sich hinter der Religion: Mohammed habe dies erlaubt.
Yacoobi jedoch gelang es durch ihren Einsatz, dass die Leute anfingen, über den Fall zu reden und sich zu fragen, ob die alte religiöse Erlaubnis wirklich noch gelten könne. Der Großgrundbesitzer sah seinen Ruf gefährdet und gab nach. Andere Redner wiesen darauf hin, dass Bildung das beste Mittel gegen Kinderheiraten ist – ganz gleich ob im indischen oder im islamischen Kontext.
Die Flüchtlingskrisen waren ebenfalls ein großes Thema. Das wirkte glaubwürdig, weil viele der Redner selbst aus ihrer ersten Heimat nach Kanada geflohen waren, oft aus der islamischen Welt: Aus dem Iran etwa die Bahais vor den Verfolgungen nach der iranischen Revolution, aus dem Irak die Jesiden vor dem IS, der keineswegs an allen Fronten besiegt ist. Bitter beklagte sich das religiöse Oberhaupt der Drusen in Israel, Scheich Mowafak Tarif, über das Schweigen der Weltöffentlichkeit angesichts der Ermordung und Entführung mehrerer Drusen im Süden Syriens durch den IS erst Ende Oktober.
Der größte Mord ist allerdings kein Genozid, sondern ein "Genderzid": Die Ermordung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts. Die Opfer sind praktisch ausschließlich Mädchen oder Frauen. In jedem Jahr gibt es über drei Millionen Frauen weniger als es biologisch die Norm wäre. Sie werden abgetrieben, sterben bei einer Geburt oder weil sie aus anderen Gründen schwer benachteiligt sind.
Eine Installation auf dem Parlament hat den Mord sinnfällig gemacht: Babysocken und Babyschuhe, in den betroffenen Ländern angefertigt und an Schnüren aufgehängt, bilden ein deprimierendes Labyrinth, durch das der Besucher hindurch schreiten muss. Ein Paar Schuhe steht dabei für zehntausend verlorene Mädchen.
Die Sorge um die Umwelt ist religiös
Das größte Thema aber war der Klimawandel. Man muss nicht religiös sein, um ihn auf die politische Agenda zu setzen. Dass aber die Sorge um Klima und Umwelt auch ein Anliegen der Religionen ist, sollte sich verstehen. An vorderster Front: Die Indigenen, etwa die Yanonami-Indianer in Brasilien. Oder Angaangaq Angakkorsuaq, Ältester und Schamane aus Grönland, dem das Eis vor der Nase weg schmilzt. Man ahnt, dass der säkularisierte Verstand, der die Natur lediglich als Objekt sieht, hier von den indigenen Religionen zu lernen hätte.
Aber auch die "Hochreligionen" machen die Umwelt inzwischen zu ihrem Anliegen. Pomnyun Sunim, Zen-Buddhist aus Südkorea, hat die Umweltbewegung "EcoBuddha" gegründet. Papst Franziskus, in Gestalt seines Umweltbeauftragten anwesend, hat mit Enzyklika "Laudato Si" im Jahr 2015 nachgezogen. Ingrid Mattson kann aus dem Koran zitieren. Gott hat den Menschen zum Statthalter über die Erde eingesetzt. Folglich muss er sie schützen.
Mit der Klimathematik haben progressive, alternative Bewegungen (das Parlament der Religionen zählt sich dazu) ihren archimedischen Punkt gefunden. Beim Klima ansetzend, so die Hoffnung, gelingt es endlich, die globale Herrschaft des Kapitalismus aufzubrechen.
Religiös und nicht-religiös orientierte Menschen teilen damit ein großes, gemeinsames Anliegen. Vor diesem Hintergrund könnte sich sogar der Ruf nach bedingungsloser Trennung von Religion und Politik als reaktionär entpuppen: nämlich als Versuch, die Religionen davon abzuhalten, sich für die Umwelt und gegen einen enthemmten Liberalismus einzusetzen.
Es fehlte nur der Streit
Dass die Vereinbarkeit von Geschlechtergerechtigkeit und Religion ähnlich reibungslos funktioniert wie die von Religion und Kampf für die Umwelt, ist schwerer vorstellbar. In Toronto funktionierte es, freilich um den Preis, dass konservative und fundamentalistische Strömungen nicht vertreten waren. Iranische Geistliche suchte man ebenso vergeblich wie saudische Salafisten, christliche Fundamentalisten und ultraorthodoxe Juden.
Dieses "Parlament" hat keinen offiziellen, institutionellen Charakter. Es ist eine Versammlung von Menschen mit ähnlichen Anliegen. Wer mit seinem Glauben hingegen einen exklusiven Wahrheitsanspruch vertritt, musste sich in Toronto verloren fühlen. Dass die Religionen endlich aufhören, sich als Konkurrenz zu verstehen, ist ein riesiger Fortschritt. Trotzdem hätte ein bisschen Streit der Konferenz nicht geschadet.
"Interfaith" lautet der immer wieder beschworene Name für die Suche nach Gemeinsamkeiten. In Toronto, das sich mit dem Titel der multikulturellsten Stadt der Welt, war es unmöglich, zu bestimmen, wer unter den Teilnehmern "wir" und wer die "anderen" sind. Weiße Kanadier entpuppten sich als Bahais, die Buddhisten kamen aus Australien, der Chinese plädierte für einen spirituellen Humanismus. Eine Palästinenserin sang englisch zu arabischen Rhythmen, während amerikanische Musiker persische Verse von Rumi intonierten und die portugiesische Tänzerin Carolina Fonseca das Ritual der wirbelnden Mevlevi-Derwische auf feminine Weise neu in Szene setzte.
Wenn es diesen gut gelaunten und progressiv eingestellten Religionsvertretern gelingt, ihre Begeisterung und ihr politisches Engagement auf die Straße zu tragen, könnte Religion auch im säkularisierten Westen bald eine ganz neue Rolle spielen.
Stefan Weidner
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