Oberste Priorität Frieden
"Wenn eine Partei 400 Abgeordnete bekommen hätte, wäre das nicht passiert." Diesen entlarvenden Satz hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan vor wenigen Wochen in einem Fernseh-Interview gesagt. Er meinte damit, dass er mit einer AKP-Regierungsmehrheit das politische System zu einem Präsidialsystem mit ihm als starken Mann an der Spitze hätte umbauen können. Dieser Satz offenbart die Geisteshaltung eines Mannes, der die alleinige und absolute Macht will und dafür scheinbar bereit ist, alles zu tun.
Seit drei Monaten versinkt die Türkei in einer Welle der Gewalt: Im Juli verübte ein Sympathisant der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) einen verheerenden Selbstmordanschlag in Suruç, dazu kommt Terror vonseiten der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK gegen Polizisten und Soldaten, den die Militärs mit Vergeltungsschlägen beantworten. Fast 200 Menschen mussten in den zurückliegenden Wochen ihr Leben lassen.
Der bislang traurige Höhepunkt war der Anschlag am 10. Oktober in Ankara bei einem geplanten Friedensmarsch. Fast 100 Menschen starben, mehrere Hundert wurden verletzt. Wer steckt dahinter? Die Antwort aus Sicht von Erdoğan und der islamisch-konservativen AKP ist klar: Terroristen der PKK, Islamisten wie der IS oder die linksextremistische Untergrundorganisation DHKP-C. Und natürlich die prokurdische Partei der Völker HDP, die enge Kontakte mit der PKK pflegt, aber deren gewalttätige Methoden ablehnt.
"Erdoğans Chaosplan"
Schon vor der Wahl im Juni 2015 haben Erdoğan, die AKP und seine Medien versucht, die HDP mit der PKK gleichzusetzen, um so ihren Einzug ins Parlament zu verhindern. Die Wähler haben das Spiel jedoch durchschaut, die HDP am 7. Juni doch ins Parlament gewählt und somit Erdoğans gewünschtem Präsidialsystem eine Absage erteilt. Die anschließenden Koalitionsverhandlungen zwischen der AKP und der kemalistischen CHP waren eine Farce. Wie zu befürchten war, gab Erdoğan Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu nicht das "Go" für eine Koalition. Deshalb stehen für den 1. November nun Neuwahlen an.
Kurz nach der Wahlniederlage der islamisch-konservativen AKP hat der mysteriöse Whistleblower Fuat Avni auf Twitter angekündigt, dass Erdoğan einen Chaosplan vorbereitet, um doch noch seine Akklamation für das Präsidialsystem zu bekommen. Dafür habe er seinen engen Vertrauten Hakan Fidan, den Chef des türkischen Geheimdienst MIT, beauftragt, seine Leute in der Terrororganisation PKK zu aktivieren. Es war jedenfalls nicht viel nötig, um den von Erdoğan selbst mühsam in die Wege geleiteten Friedensprozess mit der PKK zum Erliegen zu bringen.
Es kristallisiert sich jedoch immer mehr heraus, dass der Friedensprozess der AKP einzig dem Zweck diente, kurdische Wählerstimmen zu gewinnen. Da zahlreiche Kurden jedoch im Juni der HDP ihre Stimme gaben, ist für die AKP wohl die Hauptmotivation für den Friedensprozess weggebrochen. Ohnehin regieren Erdoğans Leute nach dem Motto: Bist du nicht für uns, bist du gegen uns. Ein fatales Politikverständnis, dass das Land in den vergangenen Jahren zerrissen und polarisiert hat.
Von der Angst getrieben
Erdoğan ist getrieben, ja beseelt von dem Gedanken der größte Führer, noch größer als Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zu werden. Und er ist getrieben von der Angst, die Macht zu verlieren und von seinen politischen Gegnern bei einem Amtswechsel für seine Machenschaften vor Gericht gezerrt zu werden.
Das Misstrauen in der Bevölkerung steigt von Tag zu Tag; Erinnerungen an die politisch instabilen 1990er Jahre werden wach. Alle Umfragen deuten bislang daraufhin, dass sich an dem Wahlergebnis vom Juni am 1. November nichts ändern wird – trotz der Stimmungsmache gegen die HDP.
Die größte Gefahr für die Türkei neben einer Alleinherrschaft der AKP wäre, wenn die ultranationalistische MHP sich entschließen sollte, eine Koalition mit der AKP einzugehen. In die aufgeheizte anti-kurdische Stimmungsmache würde die MHP noch mehr Öl ins Feuer gießen.
Die einzige echte Alternative bleibt die AKP-CHP-Koalition, um das Land wieder zu beruhigen. Der Frieden in der Türkei muss die oberste Priorität aller Politiker sein – und nicht 400 Abgeordnete, um ein Präsidialsystem einzuführen.
Timur Tinç
© Zeitschrift Entwicklung & Zusammenarbeit 2015