Versöhnung statt Rache

Über 30 Jahre lang hatte Pater Paolo dall'Oglio, Gründer der nördlich von Damaskus gelegenen Klostergemeinschaft Deir Mar Musa, in Syrien gelebt. Bis letzten Juni, als er vom Assad-Regime des Landes verwiesen wurde, berichtete er regelmäßig über die Tragödie, die sich tagtäglich in Syrien abspielt. Antonella Vicini hat sich mit ihm unterhalten.

In einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen ist zu lesen, dass seit dem 15. März 2011 über 60.000 Menschen im syrischen Bürgerkrieg ums Leben gekommen sind. Doch das Regime hält weiterhin unbeirrt an seiner Politik der Gewalt fest. Wird der blutige Zermürbungskrieg auch in Zukunft anhalten?

Paolo Dall'Oglio: Ich persönlich kann diese Zahlen nicht bewerten, da ich sie nicht wirklich einschätzen kann. Aber nach dem, was ich selbst erlebt habe, neigen die Aufständischen dazu, die Opferzahlen aus Gründen der Propaganda zu hoch anzusetzen. Die Vereinten Nationen dagegen stützen sich wohl auf verlässlichere Quellen und kamen auf eine noch höhere Zahl (15.000 mehr als die zuvor geschätzten 45.000; Anmerkung der Redaktion). Das überrascht mich zwar nicht, doch fürchte ich, dass, wenn alles vorüber ist und alle Opfer gezählt sind, wir tatsächlich noch mehr Tote zu beklagen haben werden.

Es passt einfach nicht zusammen, dass Monat für Monat Bomben auf Zivilisten fallen und dann nur von relativ wenigen Opfern die Rede ist. Das ist aus moralischer Perspektive mindestens genauso schlimm. In Syrien wird nichts unternommen, um die Führer des Widerstands zu treffen, stattdessen werden einfache syrische Bürger massenhaft getötet. Der ethische Code des Regimes lautet schlicht: Entweder Assad bleibt an der Macht oder das Land wird zerstört.

Wie erklären Sie sich, dass die internationale Gemeinschaft sich so weitgehend aus dem Konflikt heraushält und kein Ende der Gewalt absehbar ist?

Dall'Oglio: Von dem Moment an, als das syrische Regime und ihre Anhänger auf die islamistische Gefahr hinwiesen, die von den Aufständischen ausgehe, fühlte sich die internationale Gemeinschaft legitimiert, eine abwartende Haltung einzunehmen, nach dem Motto: Wenn es keine Demokratie in Syrien geben wird, gibt es auch keinen Grund, sich für eine Demokratie im Land einzusetzen. Wir stehen also einem Paradox gegenüber, denn genau diese Haltung ist es, die die Bedingungen für das Erstarken des radikalen Islamismus schuf.

Der neunjährige Abdullah aus Hama hat auf einem Bild die Schrecken des Kriegs festgehalten, Flüchtlingslager Atmeh, Syrien; Foto: Andreas Stahl/DW
Krieg gegen die eigene Bevölkerung: Laut UN-Schätzungen könnte die Zahl der syrischen Flüchtlinge im Laufe dieses Jahres auf eine Million Menschen steigen, mehr als 60.000 Menschen sollen seit dem Ausbruch des Konflikts ums Leben gekommen sein.

​​Das Regime betrachtete die ersten Aktionen dieser Gruppen als Konspiration gegen den syrischen Staat. Dieser Behauptung bin ich nie aufgesessen, aber Manipulationen durch das staatliche Fernsehen haben in Syrien eine lange Geschichte und extremistische Zellen wurden vom Regime seit langem systematisch unterwandert.

Ohne die Dinge zu simpel darzustellen, möchte ich behaupten, dass die Aktionen der islamischen Extremisten von Beginn an ins Kalkül des Regimes passten, nach dem der gesamte Aufstand nichts weiter als von ausländischen Mächten geförderter Terrorismus sei. Als diese Kräfte, so zersplittert und komplex diese auch immer sein mögen, innerhalb des Aufstands schließlich immer mehr an Einfluss gewinnen konnten, boten sie der internationalen Gemeinschaft eine willkommene Entschuldigung für ihre Untätigkeit. Das war eine unglaubliche Fehleinschätzung.

Im Bericht der Internationalen Untersuchungskommission der UN für Syrien ist zu lesen, dass angesichts der Lage vor Ort eine militärische Lösung des Konflikts so gut wie unmöglich ist und man nur auf Verhandlungen hoffen kann.

Dall'Oglio: Gegenwärtig scheint eine Lösung auf dem Verhandlungswege genauso unwahrscheinlich. Das Regime drängt auf Verhandlungen, um Zeit zu gewinnen; Zeit für die weitere systematische Zerstörung des Landes. Damit würden sie dann die dritte Phase einläuten, die darin besteht, die Kontrolle über das Land zurückzugewinnen. Ich hätte erwartet, dass das Regime in Damaskus erkennen wird, dass es nicht in der Lage ist, das gesamte Territorium zu kontrollieren und deshalb eine Teilung entlang des Flusses Nahr al-Asi anstreben wird.

Angesichts der immer stärkeren Ausweitung des Aufstandes wäre die einzig mögliche Option ein "syrisches Kosovo" gewesen, in dem man sich auf die Loyalität der Alawiten und anderer Minderheiten in dem Gebiet, wie etwa den Christen, stützen könnte. Solch eine Lösung hätte selbst von den Schiiten im Iran als kleinstes Übel akzeptiert werden können. Dies aber ist nicht geschehen und aus revolutionären Kreisen verlautet, dass dies nun auch nicht mehr geschehen kann, weil die Rebellen in diesem Gebiet so stark geworden sind, dass eine solche Teilung für das Regime keine Option mehr darstellt.

Warum wurde diese sezessionistische Lösung nicht realisiert, als sie noch eine Option darstellte?

Dall'Oglio: Dafür gibt es meiner Meinung nach zwei Gründe. Der eine ist psychologischer Natur. Baschar al-Assad hat immer gesagt: "Ich bin ein Mann aus Damaskus, nicht aus den alawitischen Bergen." Sein kultureller und geistiger Horizont erstreckt sich also auf ganz Syrien. Paradoxerweise ist Assad in dieser Hinsicht kein "Sektierer". Er nutzt seine religiöse Zugehörigkeit zur Stützung seiner Macht – doch Macht, die sich nicht auf das gesamte bisherige Staatsgebiet erstreckt, interessiert ihn nicht. In dieser Hinsicht besteht eine Kluft zwischen seinem Selbstverständnis und der herrschenden Realität.

Die zweite Hypothese basiert auf der Idee, dass das Regime eine komplexe Organisation darstellt, die ständig um einen Ausgleich zwischen der nicht-sezessionistischen Ideologie der Baath-Partei und dem Glauben der Alawiten bemüht sein muss. Diese beiden Ideologien driften zwar seit einiger Zeit auseinander, doch nicht in dem Maße, dass sie eine geographische Teilung des Landes mittragen würden.

Syrische Zivilisten in einem zerstörten Dorf; Foto: DW/A. Stahl
"Der Zermürbungskrieg, der in Syrien geführt wird, hat unermessliche Schäden und menschliches Leid verursacht. Mit der Fortsetzung des Konfliktes wurden die Kriegsparteien immer gewalttätiger und unvorhersehbarer in ihren Aktionen", so das Fazit der Internationalen Untersuchungskommission in einem ihrer Berichte aus dem Jahr 2012.

​​Sie sprachen von der Notwendigkeit, zumindest diejenigen Gebiete zu kontrollieren, die heute befreit sind.

Dall'Oglio: Erst kürzlich habe ich auf Facebook einen Beitrag auf Arabisch gepostet, in dem ich den Führer der Koalition aufgefordert habe, in den befreiten Gebieten umgehend eine Übergangsregierung zu bilden. Umgehend deshalb, weil unbedingt der Eindruck vermieden werden muss, dass Syrien inzwischen komplett in die Hände illegaler und verdeckt operierender islamischer Extremisten gefallen ist und stattdessen damit beginnen würde, Syrien wieder den Syrern zu übergeben. Zudem gibt es eine Menge Probleme des alltäglichen Lebens zu lösen, wie das der Wasser- und Stromversorgung sowie das der Arbeitslosigkeit und der Löhne.

Ist es Ihrer Meinung nach noch zu früh, um über die Zukunft der Minderheiten zu sprechen?

Dall'Oglio: Im Gegenteil, dafür ist es keineswegs zu früh. Das ist ein Thema, das schon jetzt diskutiert werden sollte, wenn auch diese Zukunft nur sehr schwer vorhersehbar ist, was vor allem am Ausbleiben der ausländischen Unterstützung liegt. Es besteht die Hoffnung, dass die Revolution über genügend Mechanismen der Selbstregulierung verfügt, die es ermöglichen werden, das Land im Zuge des Versöhnungsprozesses nicht auseinanderbrechen zu lassen – ein Wunsch, der von allen demokratischen Kräften innerhalb der Aufstandsbewegung geteilt wird. Es sind nur einige wenige militärische Gruppen, die das Schicksal der Minderheiten ernsthaft bedrohen, auch wenn sie die Christen bisher nicht gezielt angegriffen haben.

Kürzlich aber gab es hierzu einen Bericht von Schwester Agnes Mariam (eine Karmeliterin und Oberin des Klosters Deir Mar Yocoub in Qara, die bekannt ist für ihre sehr kritische Haltung gegenüber den Aufständischen/Anmerkung der Redaktion)…

Dall'Oglio: Schwester Agnes drückt sich sehr vorsichtig aus und dies ist – und das möchte ich deutlich betonen – nur ein weiteres Beispiel für die Wirkungen der geschickten Manipulationen des syrischen Regimes. Schwester Agnes stellt fest, dass sie der Kopf einer im Land nicht vertretenen Bewegung namens "Musalah" sei (Versöhnung; Anmerkung der Redaktion) und dies ist wirklich ein ernstes Problem, weil ihre Interpretation der Ereignisse äußerst selektiv ist und die Revolution mit Terrorismus gleichsetzt!

Wie könnte Ihrer Meinung nach ein Syrien nach Assad aussehen?

Dall'Oglio: Klar ist, dass Syrien über eine kulturelle Würde verfügt, die dem Islamismus nach Art der Golfstaaten gänzlich fehlt. Und darauf setze ich auch meine Hoffnungen. Ende Januar werde ich an Sitzungen revolutionärer Komitees teilnehmen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, drohende Massaker nach dem Sieg über das Regime zu verhindern. Syrien kann diese Revolution nicht gewinnen, wenn 100.000 tote Alawiten auf den Schlachtfeldern liegen. Es muss einen politischen und auch theologischen Weg geben, Racheakte gegenüber den Alawiten zu verhindern und zugleich alle Kriminellen einer gerechten Strafe zuzuführen.

Das Interview führte Antonella Vicini.

© Reset Doc 2013

Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de