Kants kosmopolitische Weltanschauung
Wir verstehen den Ausdruck Weltbürger vor allem politisch. Seit ihren Anfängen kennt die Philosophie aber eine umfassendere Bedeutung. Der Grund liegt auf der Hand: Das Medium der Philosophie besteht in der jede politische, sprachliche und kulturelle Grenze übersteigenden, allgemeinmenschlichen Vernunft.
Im Zeitalter der Globalisierung gewinnt sein Denken eine neue Aktualität. Denn wo höchst unterschiedliche Kulturen dieselbe Welt miteinander teilen, und zwar nicht wie bisher bloß "im Prinzip", sondern für alle sichtbar, dort braucht es ein auf ähnlich sichtbare Weise kulturunabhängiges Denken.
Es bedarf einer nicht ethnozentristischen, sondern inter- und transkulturell gültigen Argumentation. Bindet man sie an ein normatives Minimum von interkultureller Koexistenz, an elementare Bedingungen von Rechtsstaat und Demokratie, so kann sie politisch und wegen der globalen Dimension kosmopolitisch: weltbürgerlich, heißen. Kosmopolitisch ist sie freilich nicht im rechtlichen, sondern epistemischen, das heißt aufs Wissen bezogenen Verständnis.
Moralischer Kosmopolitismus
Kant erweitert diesen ersten, epistemischen Kosmopolitismus um einen zweiten moralischen Kosmopolitismus. Sein Begriff und Kriterium des Moralprinzips, der kategorische Imperativ, macht den Kern dieses Kosmopolitismus sogar zum Prinzip.
Der kategorische Imperativ verlangt nämlich, nur den Grundsätzen ("Maximen") zu folgen, die als ein im strengsten Sinne allgemeines Gesetz gedacht oder gewollt werden können. Und die Beispiele, die Kant anführt, werden in der Tat von so gut wie allen Kulturen als moralische Grundsätze anerkannt, namentlich das Verbot der Lüge und des Betrugs und das Gebot, Notleidenden zu helfen.
"Zum Ewigen Frieden"
Kosmopolitisch ist schließlich Kants Rechts- und Staatsdenken. Während in der politischen Philosophie von Platon und Aristoteles, später Hobbes, Locke und Rousseau die Theorie einer internationalen Rechts- und Friedensgemeinschaft fehlt, wird sie von Kant im Entwurf Zum ewigen Frieden virtuos entfaltet. Trotz seiner generellen Ächtung des Krieges – außer zur Verteidigung ist er illegitim – macht sich Kant die Mühe, das Geächtete, solange es noch wirklich ist, zu reformieren.
In den vorläufigen Bestimmungen ("Präliminarartikeln") skizziert er eine Veränderung der Kriege um eines beständigen Friedens willen; er entwirft eine friedensfunktionale Kriegsreform. Mindestens drei Forderungen bleiben bis heute aktuell: dass man stehende Heere nach und nach abschaffen solle (Prinzip Abrüsten); dass man sich in die Verfassung und Regierung anderer Staaten nicht gewalttätig einmischen darf, da sie das Recht haben, sich selbst zu reformieren (Interventionsverbot) und dass ein dauerhafter Friede ein Vertrauen voraussetzt, das durch die Art der Kriegsführung nicht aufs Spiel gesetzt werden darf.
Globale Friedensordnung und qualifiziertes Kooperationsrecht
Die endgültigen Bestimmungen ("Definitivartikel") behandeln die drei Dimensionen des öffentlichen Rechts. Im "Staatsrecht" nennt Kant zwei Antriebskräfte für eine globale Friedensordnung, zum einen die Erfahrung mit den Schrecken des Krieges, zum anderen den Republikanismus, der sich in etwa auf eine weltweite Demokratisierung beläuft.
Dann werden nämlich die Bürger gefragt, und sie werden schon aus Selbstinteresse kaum einen Angriffskrieg beginnen. (Ein kleiner Einwand: Unter besonderen Umständen, etwa weit überlegener Macht, kann Selbstinteresse aber sein Veto gegen den Krieg zurückziehen.) Im "Weltbürgerrecht" vertritt Kant ein qualifiziertes Kooperationsrecht: Der Händler darf seine Güter, der Forscher sein Wissen, selbst der Missionar seine Religion offerieren – aber ohne gewalttätig zu werden.
Ob es um Individuen, Gruppen, Firmen, auch Völker bzw. Staaten geht und ob dann wirtschaftliche, kulturelle oder touristische, auch politische Interessen verfolgt werden, bleibt sich gleich. In jedem Fall darf man andernorts anklopfen, hat aber kein Recht auf Einlass; man hat lediglich ein Besuchsrecht, kein Gastrecht.
Friedensbund aller Staaten
In der mittleren Dimension, dem "Völkerrecht", entwickelt Kant die Idee eines Friedensbundes aller Staaten. Gegen einen Staat, der sich aus den weiter fortbestehenden Staaten zusammensetzt, gegen eine föderale Weltrepublik, bleibt er zwar skeptisch.
Hier ist Kant aber mit seinen eigenen Grundgedanken fortzuentwickeln: Das rechtsmoralische Gebot, dass über alle Konflikte zwischen den Menschen, nicht die private Meinung und Gewalt entscheiden darf, sondern nur das Recht und seine öffentliche (staatsförmige) Sicherung, gilt auch für Konflikte zwischen Staaten.
Da die primäre Rechtssicherung aber den Einzelstaaten obliegt, ist die Weltrepublik nur als deren rechtsförmige Koexistenz legitim: als ein Sekundärstaat (Völkerstaat im Sinne eines Staates von Staaten) mit relativ wenigen Kompetenzen.
Auf Dauer ist es zwar rechtsmoralisch geboten, global zuständige Gerichte einzurichten, ebenso Instanzen für global geltende Gesetze und für deren Durchsetzung. Es braucht also eine Weltjustiz, ein Weltparlament und eine Weltregierung.
Aus pragmatischen Gründen (um Erfahrungen zu sammeln) und aus rechtsmoralischen Gründen (weil man die Staaten nicht mit Gewalt in eine globale Rechtsordnung zwingen darf) ist die Weltrepublik für lange Zeit nichts anderes als der Inbegriff all der Rechtsinstitutionen, die man nach und nach für die verschiedenen staatenübergreifenden Konfliktthemen der Welt einrichtet.
Eine weitergehende Weltrepublik darf man nur dann schaffen, wenn sie gegen Gefahren wie Bürgerferne, Überbürokratisierung, Machtakkumulation und mangelnde politische Öffentlichkeit gewappnet ist. Nicht als Ersatz, wohl aber zur Vorbereitung einer Weltrepublik empfehlen sich zwei schon von Kant vertretene friedensfördernde Strategien: Die Demokratisierung aller Staaten und der freie, ein die weltweite (wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle) Prosperität befördernder Austausch und Handel.
Otfried Höffe
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Otfried Höffe lehrt Philosophie und leitet die Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen.