Was weiß man, wenn man glaubt?

Liest man den Koran und die prophetische Überlieferung aus einer vernunftorientierten, freiheitlichen Perspektive kommt man zu einem völlig anderen Ergebnis als bei einer dogmatischen Leseart. Ein neuer Sammelband über Rationalität in der islamischen Theologie beleuchtet die Bandbreite der Strömungen in der klassischen Periode der islamischen Geschichte. Musa Bagrac hat das Buch für qantara.de gelesen.

Von Musa Bagrac

Oft hört man: „Den“ Islam gibt es nicht. Intellektuelle muslimische Stimmen betonen, dass „der“ Islam schon immer vielstimmig war. Der Einblick in die Anfänge der islamischen Ideengeschichte bietet Anstöße, wie diese vielfältige Diskussionskultur aus den in ersten Jahrhunderten heute wiederbelebt werden könnte. 

Die Bruchlinie in der islamischen Ideengeschichte verlief stets zwischen Vernunft und Offenbarung. Die Frage, was der Mensch wissen kann und woran er glauben muss, ist jedoch älter als der Islam selbst. Der Sammelband mit dem treffenden Titel „Rationalität in der islamischen Theologie“ bietet einen Überblick über zentrale Diskussionsstränge zwischen den Anhängern der Vernunft (ahl ar-raʾy) und den Anhängern der Überlieferung (ahl al-hadīth) aus der klassischen Periode der islamischen Geschichte. 

Namentlich verlief der Streit hauptsächlich zwischen der rationalen Strömung der Mutazila und der traditionellen, weitgehend auf der Autorität der Kleriker basierenden  Aschariya, wobei sich auch weitere Richtungen wie die Maturidiya, Schia und die Mystik einbrachten. Im Grunde geht es bei den Auseinandersetzungen um die Frage, ob sich ethisch richtiges Verhalten aus der Vernunft oder aus der Offenbarung ableiten lässt und welches dieser Denkmodelle die politische Ordnung der Muslime dominieren soll. 



Brisante Debatte über den freien Willen

Warum eine auf den ersten Blick so harmlos klingende Frage bis heute so lebhaft diskutiert wird, erkennt man, wenn man die politischen Folgen bedenkt. Liest man den Koran und die prophetische Überlieferung aus einer vernunftorientierten, freiheitlichen Perspektive, kommt man zu einem völlig anderen Ergebnis als bei einer textfixierten, dogmatischen Leseart. 

Denn die Debatten etwa über den freien Willen des Menschen waren sehr brisant: Ist der Mensch frei, dann ist er auch für sein Glück im Leben selbst verantwortlich. Ist sein Geschick aber vorherbestimmt, wird von ihm vorauseilender Gehorsam erwartet, der bloße Anweisungen auszuführen hat.

Buchcover: Maha El Kaisy-Friemuth, Reza Hajatpour, Mohammed Abdel Rahem (Hg.), Rationalität in der Islamischen Theologie. Band I: Die klassische Periode, De Gruyter Verlag, Berlin 2019. Foto: De Gruyter Verlag
Das Erbe der Rationalität in der islamischen Theologie: Der vorliegende Sammelband zeigt die Wichtigkeit eines rationalen Umganges mit geoffenbarten Texten. Die Beiträge beschäftigen sich mit den Argumenten der Muʿtaziliten, Aschʿariten und Māturīditen und ihrem rationalen Ansatz der Koran- und Hadith Interpretation. Moderne Denker haben sich bei ihren Reformdiskussionen von deren nach wie vor gültigen Argumenten inspirieren lassen.

So wird auch klar, warum Gelehrte unter Einsatz ihres Lebens die verfügbaren Argumente penibel überprüften und davon ausgehend Theorien entwickelten bzw. beim Vorliegen neuer Indizien ihre Narrative revidierten oder verwarfen. Trotz aller Gefahren für Kopf und Kragen zeichnete sich die klassische Periode der islamischen Ideengeschichte durch eine hohe Ambiguitätstoleranz aus. Wie kontrovers die damals vertretenen Positionen waren, davon zeugen die einzelnen Aufsätze dieses Sammelbandes. 

Noch vor seiner Kanonisierung wurde der Koran völlig unterschiedlich gelesen: Wer eher freiheitlich geprägt war, hat den Text ganz anders ausgelegt, als eine dogmatisch orientierte Persönlichkeit. Dies hatte auch Auswirkungen auf die spätere Vokalisation des Textes und die Setzung der diakritischen Punkte, die die arabischea Grammatik und den Sinn eines Textes verändern. Lediglich Gottes zentraler Platz und die Gültigkeit des Korantextes blieben davon unberührt. 

Unterschiedliches Koranverständnis

Die theologischen Schulen zeichneten sich beim Koranverständnis durch eine unterschiedliche Denkweise aus. Exemplarisch lässt sich das entlang der Frage bestimmen, welcher Koranvers eindeutig (muhkam) und welcher vieldeutig (mutašabih) ist. Diese Frage konnte bis heute nicht endgültig geklärt werden.

So heißt es beispielsweise im Koran (Sure 18:29), „wer will, möge glauben und wer nicht will, möge nicht glauben“. Der traditionalen Aschariya zufolge ist dieser Vers interpretationsbedürftig, sonst müsste sie annehmen, der Mensch sei in die Freiheit entlassen worden.

Die rationale Strömung der Mutazila dagegen zieht diesen Vers als Beleg für die eigene freiheitliche Ansicht heran. In diesem Zusammenhang muss man auch die Frage nach den Gründen für die Offenbarung (asbāb an-nuzūl) erwähnen. Da zum selben Vers unterschiedliche, auch widersprüchliche Gründe oder Orte der Offenbarung genannt werden, bleibt auch diese Methode umstritten. Zumal die Rivalen gemäß ihrer Überzeugung jeweils den passenden Anlass für die Offenbarung heranzogen. Unter diesen Umständen bleibt es eine Unmöglichkeit, die asbāb an-nuzūl  (Offenbarungsgründe) mit letzter Sicherheit zu bestimmen. Die Schwäche dieser Disziplin liegt auf der Hand. Sie macht auch verlässlichere Methoden wie die historisch-kritische erforderlich.

Parallel dazu verlaufen auch die Linien zwischen den Rechtsschulen. Die juristischen Gemüter scheiden sich an den so genannten āḥād-Hadithen. (Hadithe sind Überlieferungen über Aussprüche und Handlungen des Propheten) Ein āḥād-Hadith ist eine Prophetenaussage, die lediglich über eine einzige Überlieferungslinie (isnād) weitergegeben wurde.

Die rationale Rechtsschule der Hanafiyya räumt dem Menschenverstand (qiyās – Analogieschluss) Vorrang vor einem āḥād-Hadith ein. So finden die āḥād-Hadithe in der hanafitischen Rechtsschule lediglich in rechtlichen Fragen Anwendung, und das auch nur vereinzelt und unter strengen Auflagen, während andere Rechtsschulen āḥād-Hadithe vorziehen.

Mutaziliten haben hierbei den Schwerpunkt mehr auf den Inhalt als auf die Glaubwürdigkeit der Überlieferungslinie gelegt. So durfte nach Auffassung der Mutaziliten ein āḥād-Hadith weder der menschlichen Vernunft noch dem Koran, der Sunna des Propheten, der Praxis der islamischen Urgemeinde und der übereinstimmenden Auffassung von Gelehrten widersprechen. 

Musa Bagrac ist promovierter Religionspädagoge und Lehrer für Sozialwissenschaften, Pädagogik, Islamischen Religionsunterricht und Praktische Philosophie in Nordrhein-Westfalen.
Musa Bagrac ist promovierter Religionspädagoge und Lehrer für Sozialwissenschaften, Pädagogik, Islamischen Religionsunterricht und Praktische Philosophie in Nordrhein-Westfalen.

Der Einfluss politischer Patronage auf die Debatten

Bemerkenswert in den theologischen Diskussionen ist auch die duale Erkenntnislehre der Maturidiya, wonach für ein gelingendes Leben neben Offenbarung und Vernunft auch die menschlichen Sinne als Quellen des Wissens gelten. Diese Unterscheidung ist anschlussfähig an die moderne Erkenntnislehre. Umso bezeichnender ist es, dass viele zur Maturidiya zählende Muslime heute eher  etwa in Fragen von Erkenntnis, Freiheit und Verantwortung Auffassungen der konservativen Ashariya übernommen haben.



Interessant ist auch, wie aus schiitischer Perspektive die rationalistische Mutazila zur sunnitischen Theologie erklärt wurde. Meiner Meinung nach erfolgen solche Zuschreibungen, um politische Ansprüche geltend zu machen und Deutungshoheit zu sichern.

Was in diesem außerordentlich wichtigen Werk noch fehlt, ist ein Beitrag zum Einfluss der politischen Patronage auf theologische Debatten. Schließlich gingen die einst seit dem 8. Jahrhundert in kontroverser Auseinandersetzung entwickelten Ideen ab dem 11. und 12. Jahrhundert in eine Phase der Erstarrung über und werden seitdem bis heute von manchen Predigern auf Kosten innovativer Ideen reproduziert.

Angesichts aktueller Konflikte, bei denen religiöse Leitbilder oft als Legitimation herangezogen werden, ist es erforderlich, islamische Prinzipien wie einst neu zu formulieren und mit anderen Akzenten zu versehen.

Jeder Text reflektiert die Normen und Werte seiner Entstehungszeit. Was damals als irrelevant galt, muss heute unbedingt geklärt werden. So etwa wie man mit frauenfeindlichen Überlieferungen oder mit politisch-autoritären Prophetenaussprüche umgehen will. Die Brisanz solcher Fragen liegt auf der Hand. 



Schlussendlich bleibt die theologische Quellenarbeit ein komplexes Unterfangen. Dass heute bestimmte konservative Akteure die progressiven Narrative von muslimischen Intellektuellen in Abrede stellen, ist kein neues Phänomen. Der vorliegende Band zeigt aber auch, dass Gelehrte, die heute als Autorität anerkannt sind, erst im Rückblick diese Akzeptanz erhielten. So gesehen, ist Theologie auch immer wie Archäologie, die sich mit jeder Neuentdeckung und Neubewertung weiterentwickelt. 

Die Herausforderung für die heutige Theologie liegt darin, Erklärungsansätze zu bieten, die mit dem Anspruch des Pluralismus und des wissenschaftlichen Fortschritts zusammengehen.

Die Aufsätze dieses Sammelbandes sind eine Einladung zur intensiven Beschäftigung mit der klassischen Periode der islamischen Theologie, um anhand dieser zentralen Epoche das Verhältnis zwischen Vernunft und Offenbarung im Lichte der Moderne neu zu denken. 



Musa Bagrac



© Qantara.de 2020 

Maha El Kaisy-Friemuth, Reza Hajatpour, Mohammed Abdel Rahem (Hg.), Rationalität in der Islamischen Theologie. Band I: Die klassische Periode, De Gruyter Verlag, Berlin 2019.