Hoffnungsträgerin für Demokratie
Als die mutige Menschenrechtsaktivistin Shirin Ebadi in Paris erfuhr, dass ihr der Friedensnobelpreis verliehen wurde, diskutierte man in den Medien gerade die Erklärung der EU-Außenminister über die anhaltende Verletzung der Menschenrechte in Iran. Die 56-jährige Shirin Ebadi ist promovierte Juristin und war von 1975-1979 in Teheran als Richterin tätig. Nach der Islamischen Revolution machten sich die herrschenden Mullahs daran, der Missachtung islamischer Vorschriften durch den Schah ein Ende zu setzen, und alle Richterinnen, so auch Ebadi, wurden ihres Amtes enthoben.
Ebadi arbeitete nun als Anwältin. Sie übernahm insbesondere die Verteidigung von Frauen, die in der Islamischen Republik auch gesetzlich diskriminiert werden. In einem ihrer Bücher hält Ebadi ihre Erfahrungen fest und stellt die Gesetzgebung der Islamischen Republik und die Menschenrechtserklärung einander gegenüber. Sie gründete außerdem ein Kinderhilfswerk, eine der wenigen NGOs in Iran. 1994 unterzeichnete Ebadi den „Text der 134“, einen Appell von 134 Schriftstellern zur Aufhebung der Zensur in Iran.
Die Veröffentlichung des Aufrufs war in Iran verboten, er erschien jedoch in der europäischen Presse und lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Missstände in der Islamischen Republik. Die Zensur nahm weiter zu und die iranische Führung erhöhte den psychischen Druck und gewalttätige Übergriffe auf oppositionelle Intellektuelle und Schriftsteller. 1997 wurde ich, der den „Text der 134“ mitinitiiert und ebenfalls unterzeichnet hatte, dreimal zum Tode verurteilt. Damals konnte es bereits gefährlich sein, meinen Namen auszusprechen, trotzdem zögerte Ebadi nicht, meine Verteidigung zu übernehmen.
Engagiert - trotz Hausarrest und Berufsverbot
Bei den Präsidentschaftswahlen siegten zwar die islamischen Reformer, doch die Fundamentalisten setzten ihren Druck auf Dissidenten fort. 1998 wurden die beiden Mitglieder des iranischen Schriftstellerverbandes, Mohammad Mohtari und Mohammad Puyandeh sowie die liberalen Oppositionsführer Dariush und Parwaneh Foruhar von Angehörigen des Geheimdienstes brutal ermordet. Trotz des Widerstands des Gerichts übernahm Ebadi die Vertretung der Familien der Opfer.
Ebadi geriet weiter unter Druck als im Jahre 2000 Amir-Farshad Ebrahimi, der ehemalige Anführer eines Schlägertrupps der Ansar-e Hezbollah, der für den Mord an Dissidenten und gewaltsame Übergriffe bei Protestdemonstrationen verantwortlich war, in ihrem Büro die finanziellen und politischen Verstrickungen dieser Gruppe mit konservativen Kreisen der obersten iranischen Führung enthüllte. Als das Videoband mit den Aufzeichnungen an die Öffentlichkeit geriet, kam es zu einem Skandal. Doch anstatt die eigentlichen Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen, wurden Ebrahimi und seine Anwältin Ebadi verhaftet. Nach 25 Tagen kam Ebadi wieder frei, ihr wurde jedoch das Recht auf Berufsausübung entzogen. Trotz dieses Verbots setzte sie ihre Aktivitäten fort.
Auszeichnung mit vielfacher Signalwirkung
Die Biografie und die Verdienste von Shirin Ebadi sind für eine Frau in der Islamischen Republik herausragend. Die Entscheidung des Nobelpreiskomitees wurde in den Medien mit Rückblick auf vorangegangene Friedensnobelpreisträger unterschiedlich diskutiert. Zum einen verwies man darauf, dass in Iran aufgrund der harten Repression keine politischen Parteien, Gewerkschaften und nur wenige NGOs existieren, Oppositionelle und Intellektuelle wurden ins Exil getrieben oder getötet.
Die Verleihung des Friedensnobelpreises an eine Iranerin ließ die Erwartung aufkommen, dass Europa damit beabsichtige, eine Alternative aufzubauen, um einen friedlichen Wandel Irans zu einer Demokratie einzuleiten. Der Preis verleiht der Ausgezeichneten eine relative Sicherheit der eigenen Person. Außerdem kann Ebadi als Frau mit der breiten Unterstützung der sehr starken Bewegung iranischer Frauen rechnen. Inwieweit Shirin Ebadi diese Rolle übernehmen kann und will - und zu welchem Grad sie die Unterstützung der breiten Bevölkerung und nicht nur von Intellektuellen auf sich ziehen kann - bleibt allerdings erst abzuwarten.
In der Erklärung des norwegischen Nobelpreiskomitees heißt es: „Ebadi ist eine bewusste Muslimin. Sie sieht keinen Gegensatz zwischen dem Islam und den grundlegenden Menschenrechten.“ Das Gleiche äußerte auch Ebadi selbst in ihrer ersten Stellungnahme in Paris. So begriff ein Teil der Presse die Auszeichnung Ebadis auch als eine Botschaft Europas an jene Kreise der amerikanischen Regierung, die einen Regimewechsel in Iran anstreben.
Mit dem Sturz Saddam Husseins ist Iran das einzige erdölproduzierende Land in der Region des Persischen Golfs, das aus Feindschaft zu den Vereinigten Staaten seine Erdöl- und Erdgasressourcen und seinen Markt ausschließlich den europäischen Staaten zur Verfügung stellt. Jeder Regimewechsel in Iran würde den Einfluss der EU in dieser auch strategisch wichtigen Region verringern.
Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Ebadi kann als Teil der Iranpolitik europäischer Staaten betrachtet werden, die sich auf eine Unterstützung der islamischen Reformer konzentriert. Darüber hinaus wurde die Auszeichnung auch als Teil der Bestrebungen Europas definiert, eine liberalere und reformorientierte Version des Islam zu konsolidieren. In Europa bilden Muslime die zweitstärkste Religionsgemeinschaft. Die Integrationspolitik ist auch nach mehreren Generationen wenig erfolgreich und Teile der europäischen Muslime, selbst Angehörige der zweiten und dritten Generation, wenden sich auf der Suche nach Identität in einer Gesellschaft, die sie ausgrenzt, dem Islam zu.
Daneben müssen sich europäische Staaten mit dem internationalen islamischen Fundamentalismus auseinander setzen. Hier betonen sie stets, dies sei kein Kampf gegen den Islam, sondern gegen Terrorismus. Die Verankerung eines reformistischen Islam, einer Lesung, die mit westlicher Kultur, Menschenrechten und Modernität vereinbar ist, so hoffen manche, könnte Europa im Widerstand gegen den Einfluss fundamentalistischer Strömungen bei Muslimen in Europa und islamischen Terrorismus zu Gute kommen.
Dass diese Hoffnungen erfüllt werden, ist jedoch wenig aussichtsreich. Nach 24 Jahren Islamischer Republik und dem Versagen der Reformer in Iran gehört die Trennung von Staat und Religion zu den Hauptforderungen des Großteils der Bevölkerung.
Enttäuschung über islamische Reformer
Als Shirin Ebadi am 14. Oktober am Teheraner Flughafen ankam, wurde sie von mehr als 10.000 Iranern und Iranerinnen empfangen, deren Slogans hießen: „Khatami, tritt zurück“ und „Meinungsfreiheit gibt es nur ohne Bart und Wolle“ (gemeint sind die Mullahs in Anspielung auf deren Bart und wollenen Umhang). Beide Aussagen zeigen die Enttäuschung der Bevölkerungsmehrheit über die islamischen Reformer. In anderen islamischen Ländern und unter den Muslimen in Europa gibt es zwar ein gewisses Interesse an einer neuen reformorientierten Interpretation des Islam, doch dies beschränkt sich vor allem auf Intellektuelle.
Jene Muslime, die sich auf der Suche nach einer Lösung für die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Probleme dem Islam zuwenden, hören von den Geistlichen, dass die Lesung der Reformer eine Unterwerfung unter die westliche Kultur sei. Zwar begrüßt eine kleine Zahl von Muslimen die Bestrebungen liberaler Kreise in Europa, eine reformistische Lesart des Islam zu propagieren, doch dies stößt auf den Widerstand vieler Geistlicher und weiter Teile der Bevölkerung.
Sie haben selbst Zugang zum Koran und warten nicht darauf, von Europa erklärt zu bekommen, wie ihre Religion zu deuten sei. Unabhängig davon gab die Verleihung des Friedensnobelpreises an Shirin Ebadi nahezu allen Iranern Grund zu großer Freude. Der Wortlaut der Erklärung des Nobelkomitees und die erwähnte Stellungnahme von Ebadi wurden nur von den religiösen Reformern zur Kenntnis genommen. Die Mehrheit der iranischen Bevölkerung begreift die Auszeichnung als Unterstützung der Weltöffentlichkeit bei ihrem Kampf für Menschenrechte und Demokratie in Iran. Welche Bedeutung der Preis für Iran haben wird, werden die künftigen Äußerungen und Aktivitäten von Shirin Ebadi entscheiden.
Faraj Sarkohi
Aus dem Persischen von Sabine Kalinock
© Qantara.de 2003
Faraj Sarkohi begründete 1985 das Kulturmagazin „Adineh“ (Freitag), deren Chefredakteur er für elf Jahre war. Als einer der Wortführer der Schriftsteller-Initiative („Text der 134“) gegen Zensur wurde er 1996 verhaftet. Ein Jahr darauf wurde er in einem geheimen Verfahren zum Tode verurteilt. Durch internationale Proteste wurde das Urteil jedoch revidiert. Zwei Jahre darauf konnte er nach Frankfurt a. Main ausreisen, wo er heute lebt. Sarkuhi erhielt 1998 den Kurt-Tucholsky-Preis für politisch verfolgte Schriftsteller und ist Ehrenmitglied des PEN-Zentrums Deutschland.